Essen, 19.4. – Es gibt nicht den, sondern unzählige Helge Schneiders. Das 1955 in Mülheim an der Ruhr geborene Gesamtkunstwerk ist Clown, Komiker, Schauspieler, Regisseur und vor allem ein begnadeter Jazzmusiker und Multiinstrumentalist. Außerdem ist er Kommissar 00 Schneider, Dr. Angelika Hasenbein und Doc Snyder, Adolf Hitler war er auch schon mal. Den Hohepriester des Nonsens begleitete Regisseurin Andrea Roggon für ihren Dokumentarfilm „Mülheim – Texas. Helge Schneider hier und dort“, der im Essener Astra NRW-Premiere feierte.
Der Rahmen des im Vergleich zur Essener Lichtburg kleineren Astra war gut gewählt. Im Foyer schien das Bier besser als der Sekt zu gehen und vertrauter Ruhrpott-Slang dominierte die Gespräche. Skurriler war es im Saal vor der Projektion. Ein Typ forderte jeden, der eintrat und sich einen Moment zu lange suchend nach dem günstigsten Platz umblickte, lautstark auf „Jetzt setzt Dich domma endlich hin da!“. Erst beim dritten Mal wurde klar, dass derjenige keinen der derb Angesprochenen kannte. Helge Schneider inkognito? Wohl eher nicht, denn der Schlingel trug keine Perücke. Gefallen hätte es Helge sicherlich, er selbst fehlte aber bei der NRW-Premiere.
Im Film gibt es von ihm aber genug zu sehen und zu hören. In loser Folge und unter Kapitelüberschriften wie „Mülheim“, „Studioland“ oder „Spontan“ sehen wir ihn beim Blödeln, Musizieren, Schreiben, Rudern, Drehen. Auch in der zu kleinen Badewanne einer südländischen Finka, beim Fahren eines Traktors oder beim Gassi gehen mit seinen Hunden sind wir mit dabei. Wer aber erwartet, den Privatmann Helge kennenzulernen, wird enttäuscht.
Ungewöhnliches gibt es dennoch zu sehen, zum Beispiel wenn er beim Einspielen diverser Instrumente am eigenen Anspruch scheitert und so den kaum vermuteten Perfektionisten offenbart. Als wahrhaft großartigen (Jazz)musiker und jemanden, der die Passion Musik sehr ernst nimmt, präsentieren ihn dagegen die vielen Konzertausschnitte. Wenn er in einem der wenigen Interviewfetzen erläutert, warum er keine Angst vor dem Versiegen seiner Kreativität hat, wirkt er tatsächlich wie ein Mensch, der zeitlebens immer gemacht hat, wozu er Lust hatte, ohne sich um seine Wirkung zu scheren.
Eine Szene, die Impressionen aus dem unkontrolliert lachenden Publikum bei Helges Auftritten zeigt, hätte auch am Premierenabend im Astra entstanden sein können. Vereinzelt ist immer wieder ein Glucksen und Grunzen aus dem flächendeckenden Gelächter zu vernehmen.
Erst als sich nach dem Abspann alle beruhigten, stellte sich Andrea Roggon mit Produzentin Ulla Lehmann und Arne Höhne vom Piffl-Filmverleih einer kleinen Fragerunde. Roggon begleitete Helge Schneider vier Jahre lang, teilweise nur zu zweit mit Kamerafrau Petra Lisson, um flexibler zu sein.
Auf die Frage, wieviel von dem in diesem langen Zeitraum gedrehten Material denn im fertigen Film Verwendung gefunden hätte, erwiderte die Regisseurin blitzschnell „1 %“. Ob sie Helge während des Drehs persönlich näher gekommen wäre, beantwortete sie zögerlicher: „Ich glaube, Helge möchte ein wenig mysteriös bleiben. Man muss nicht alles wissen.“ Die Auskunft, dass er ihren Film bereits dreimal gesehen habe, erfreut sie selbst aber sichtlich.
Roggon versucht erst gar nicht, eine Homestory des privaten Helge zu erzählen. Gerade deswegen wird ihr Portrait seinen vielen Facetten umso gerechter. Sie alle stehen für den schmalen Grad zwischen mal perfekt choreografiertem, mal improvisiertem Wahnsinn, auf dem Helges Auftritte stets balancieren. Dafür wird er geliebt oder gehasst.
Diejenigen, die ihn lieben, können „Texas – Mülheim. Helge Schneider hier und dort“ ab dem offiziellen Kinostart am 23.4. erleben.
Lesen Sie hier auch unser Interview mit Regisseurin Andrea Roggon.
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