Essen, 1. Februar – Bis auf den letzten Platz besetzt sind die 430 Kinosessel im Essener Astra, als am Montagabend eine NRW-Filmpremiere der besonderen Art auf dem Programm steht: „Trapped by Law“ lautet der Titel der von Sami Mustafa als Doku-Drama 2010 bis 2015 filmisch inszenierten Geschichte einer Abschiebung der Roma-Brüder Prizreni. Ausgerechnet als sie gerade dabei sind, in ihrer Heimatstadt Essen als Hip-Hopper durchzustarten, werden sie ohne Vorwarnung eines Morgens im März 2010 um 4 Uhr von der Polizei aus ihrer Wohnung geholt und nach Büren verbracht, dem größten ‚Abschiebeknast‘ der Republik. Von dort aus werden der 1986 in Prizren, Kosovo, geborene Kefaet (31) und sein 1989 in Deutschland geborener Bruder Selami Prizreni (26) nach über zwei Jahrzehnten ‚geduldeten Lebens‘ im Ruhrpott zwangsweise in die kosovarische Hauptstadt Prishtina ausgeflogen. Neben Aktivisten von Pro Asyl begleitet ein Filmteam die beiden bei ihrer Ankunft und ihren Versuchen, sich in dem für sie fremden Land zu orientieren, wo sie tiefe Krisen überstehen und schließlich als Hip-Hop-Stars gefeiert werden, bevor es ihnen nach fast fünf Jahren endlich gelingt, zu ihrer Familie nach Essen zurückzukehren. Und als der Abspann des Films gelaufen ist, stehen sie plötzlich selbst vor dem Leinwand-Vorhang und rocken den Saal… Einziges Manko des Abends: In der von WDR-Journalistin Asli Sevindim sehr engagiert moderierten anschließenden Diskussionsrunde wird aus organisatorischen Gründen keine einzige Publikumsfrage zugelassen und die Gelegenheit zum integrativen Dialog bleibt somit ungenutzt.
„We were ripped out of everything“ – aus allem seien sie rausgerissen worden, konstatiert Kefaet Prizreni in einer der auf Englisch gehaltenen Interview-Sequenzen, die den Film dokumentarisch strukturieren. Die Arbeit am ersten Album der Hip-Hop-Brüder ist mitten im Gange, als plötzlich die Abschiebepolizei auf den Plan tritt und sich das bisherige Leben mit einem Mal verändert. Am Anfang fühle man sich als Tourist, wenn man auf dem harten Pflaster im Kosovo aufschlage. Doch der ‚Kulturschock‘ lässt nicht lange auf sich warten: Bettelnde Kinder umringen plötzlich das klapprige Auto der beiden, als sie erstmals durch den Kosovo reisen und in der Kleinstadt Dushanova bei Prizren nach dem ehemaligen Haus ihrer Eltern suchen. „Wir wussten nicht, wo wir da reingeraten waren“, lautet die niederschmetternde Zwischenbilanz, kurz bevor die nur zwei Monate vorhaltende finanzielle Unterstützung aus Deutschland endet. Für sechs Wochen finden die beiden Brüder eine am Ende unbezahlt bleibende Arbeit in einem Callcenter, das von einem auf den anderen Tag schließt. Der Versuch, in Serbien einen Pass zu bekommen, der zur legalen Wiedereinreise nach Deutschland berechtigen könnte, frisst die letzten finanziellen Ressourcen der beiden und führt nicht zum Ziel, da sie in dem Papier als Kosovaren und damit als nicht visaberechtigt markiert werden. Zudem ist in ihrem „Department Letter“ der deutschen Behörden die Option einer Wiedereinreise nach Deutschland auf „Null“ gesetzt.
Besonders hart ist die Geschichte von Kefaet: Seine getrennt lebende Frau samt zweier Kinder hat sich inzwischen in Kroatien niedergelassen und verweigert ihrem Ex-Mann, auch nur telefonischen Kontakt zu den Kindern zu halten. Wegen geringfügiger Delikte in Verbindung mit Cannabis war er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden – die Bewährungsauflagen jedoch habe er nach eigenem Bekunden mehr als erfüllt. Die beiden Brüder treten schließlich die Flucht nach vorne an – in den Rausch der Musik, die ihnen im Kosovo bald den Status von Hip-Hop-Heroen einbringt. Metaphern wie „alles verbrannt“ reflektieren sowohl die innere als auch die äußere Landschaft. Selbstironisch reimen sie „Roma“ auf „Koma“ und nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, als Minderheit, der sie angehören, kulturell Flagge zu zeigen. Dennoch sehen sie für sich keine ‚Bleibeperspektive‘ im Kosovo, wo sie – ohne sichere Einnahmen durch ihre Musik – zeitweise mittellos auf der Straße leben. 2014 gelingt ihnen schließlich über die ‚Balkan-Route‘ die Rückkehr nach Deutschland, wo die Prizreni-Brüder nun wieder mit Duldungsstatus in Essen leben und Unterschriften gesammelt werden, um eine abermalige Abschiebung zu verhindern. „Trapped by Law“ geht unter die Haut – ist es doch eine Geschichte, die die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit aufzeigt. Aktuell ist ein Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abermals abgelehnt worden.
Nach dem Film dann der größte Coup des Abends: Die Prizreni-Brüder rappen im vollbesetzten Astra-Kino. Neben emotionalen Statements wie „Ganz tief in mir brennt es“ formuliert das Musikprojekt „HipHop-Hooray“ rhetorische Fragen: „Wo ist das Scheiß Gesetz?“ Und: „Wie könnt ihr nur so dreist sein, Familie zu trennen?“ Zu dem Duo gesellt sich der ältere Bruder Hikmet (34), der von der Abschiebung verschont blieb und nun wieder zusammen mit seinen Brüdern rappt. Kefaet Prizreni schließlich formuliert die Überleitung zur nachfolgenden Diskussionsrunde: „Essen hat jetzt die Verantwortung, ob wir bleiben dürfen oder nicht“, sagt der zweifache Vater und berührt damit die Herzen des Publikums. „Der Oberbürgermeister ist doch jetzt hier“, macht er Stimmung vor der Diskussion.
Thomas Kufen (CDU), seit September 2015 Oberbürgermeister der Stadt Essen, findet zunächst lobende Worte für den Film von Sami Mustafa, der an diesem Abend leider nicht anwesend sein kann. Es sei ein „sehr aussagestarker Film – auf keinen Fall voyeuristisch“; jedoch könne man „aufgrund eines Films keinen ausländerrechtlichen Fall beurteilen“. Immerhin appelliert Kufen an die Moral der Justiz – man müsse aufpassen, dass aus Recht nicht Unrecht werde. Die Moderatorin der Runde, WDR-Journalistin Asli Sevindim, versucht die Wogen zu glätten: „Trapped by Law“ sei „kein Film, den man als Grundlage für eine Integrationsdebatte nehmen“ könne. Mark Terkessidis, Journalist und Migrationsforscher, legt jedoch den Finger in die Wunde: „Es ist ein Skandal, dass Leute abgeschoben werden, die hier geboren worden sind.“ Basis für die „verwirrende Gesetzeslage“ sei zudem immer noch eine ‚Ausländerpolizeiliche Verordnung‘ von 1938.
„Wir brauchen transparente Regeln“ statt der „bleiernen Schwere“ des Duldungsstatus, pflichtet ihm Konstantin Adamopoulos, freier Kurator und Essener ‚Nordstadt-Scout‘, bei. Damit spricht er Nisaqete Bislimi, Sprecherin des bundesweiten Roma-Verbandes und Verfasserin des autobiographischen Romans „Durch die Wand – Von der Asylbewerberin zur Rechtsanwältin“, aus dem Herzen. Ursprünglich sollte die Essener Anwältin ebenfalls mitdiskutieren, musste jedoch aus gesundheitlichen Gründen absagen. Das „Zusammengehörigkeitsgefühl über die A40 hinweg stärken“ will Winfried Kneip von der Stiftung Mercator, und Stephan Muschik (RWE-Stiftung) setzt auf „Integration durch Bildung“, die wieder intensiviert werden müsse. Hierzu gehört jedoch auch ein reger demokratischer Austausch zu Fragen der Integration – auch und gerade mit einem so großen interessierten Publikum wie an diesem Abend. Die Chance hierzu jedoch wurde leider dadurch vertan,dass Publikumsfragen nicht gestellt werden durften. Wann sich auch andere Filmfans ein eigenes Bild von „Trapped by Law“ machen können, bleibt einstweilen offen, da ein Kinostart-Datum noch nicht feststeht.
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