Der albanische Maler Rodolfo, der Komponist Schaunard und der Schriftsteller Marcel Marx sind Meister der Improvisation. Ihr Leben im Provisorium haben sie zur Kunstform erhoben. Am Rande des Existenzminimums schlagen sie sich mit Stil, Mut zur Behauptung und Fantasie durch den Dschungel der Großstadt. Sie leben von Tag zu Tag, von der Hand in den Mund, und kommen sie einmal zu Geld, wird es sogleich mit spielerischer Leichtigkeit auf den Kopf gehauen. Inspiriert von Henri Murgers Roman „Scènes de la Vie de Bohème” (1851) und Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ erzählt der finnische Regisseur Aki Kaurismäki vom Leben dreier gestrandeter Künstlerexistenzen. Mit bestechender Zartheit und liebevollem Humor lässt er sie gegen verständnislose Vermieter, ungeduldige Gönner, die Willkür der Grenzbehörden kämpfen – und im Moment tiefster Verzweiflung die große Liebe finden. Denn die sitzt, wie es der glückliche Zufall will, eines Abends einfach vor der Tür. Die junge Regisseurin Barbara Hauck bringt in ihrer ersten Bochumer Inszenierung Kaurismäkis tragikomischen Filmstoff auf die Bühne.
trailer: Frau Hauck, kommen die Librettos der Oper jetzt ins Theater?
Barbara Hauck: Bei meiner Interpretation der Bohème kommen sie ins Theater, zumindest ein Stück weit. Wir arbeiten unter anderem mit dem originalen Drehbuch von Aki Kaurismäki, mit dem Originaltext von Henri Murger, der hat 1851 den Ursprungsroman „Boheme – Szenen aus dem Pariser Leben“ geschrieben, und mit dem Libretto von Giacomo Puccini. Aber es gibt ja noch eine Oper „La Bohème“ von Ruggero Leoncavallo. Das heißt also, ein Stück weit kommt das Libretto jetzt ins Theater.
Was ist das Spannende am Leben dreier gestrandeter Künstlerexistenzen?
Das Spannendste ist für mich die Frage, ob es diese Haltung heute überhaupt noch in der Form gibt. Es ist keine unreflektierte Verklärung dieses sogenannten Bohèmienlebens, dieses Bildes vom armen Künstler, der in seiner Dachkammer ausharrt und aus seiner Armut schöpft und nur dadurch kreativ wird. Die Frage ist erst einmal, ob es das überhaupt noch gibt, und dann haben wir uns viel damit beschäftigt, wie der Kunstmarkt heute funktioniert. Ein ökonomisches Produkt, wo die Künstler nach oben geschossen werden – nicht nur in der Kunst, auch im Theater oder in der Oper – und dabei sehr viel Geld umgesetzt wird. Wo bleibt dieses Bohèmeleben noch, und was ist das heute? Was ich an diesem Leben bewundere, ist das Bis-zum-Äußersten-Gehen, Bis-zu-physischen-und-psychischen-Grenzen-Gehen. Das finde ich spannend zu untersuchen. Diese Lebensart wird ja heute eher verklärt, aber die meisten waren ja auch Alkoholiker oder drogenabhängig. Und sprechen wir erst gar nicht über Sexualkrankheiten. Die Künstler haben damals viel ausprobiert, die waren viel mutiger, als wir es heute sind. Wir gehen viel mehr auf Sicherheit – die haben sich an der Gesellschaft gerieben. Das interessiert mich insbesondere daran.
Also ist das dann eher ein Aufruf zum Nachmachen?
Ich finde spannend, inwieweit dieser damalige Lebensstil mittlerweile in die Gesellschaft hineinragt. Dass viele Dinge, die damals provokativ waren, heute längst akzeptiert sind. Wenn man sich alte Fotografien anschaut und mit dem Jetzt vergleicht, kann man sehen, dass sich zum Beispiel Mode heute extrem gemixt hat. Da haben Frauen Männerkleidung getragen, wenn man sich beispielsweise die 1920er Jahre ansieht. Das war damals provokant, ist aber heute gang und gäbe. Alle bedienen sich aus der bürgerlichen Welt und der Kunst und umgekehrt.
Aber anerkannt in der Gesellschaft sind sie immer noch nicht.
Immer noch nicht. Nein. Es wird ja auch immer weiter gekürzt in der Kunstszene. Wenn es schön und schillernd ist und man sich dessen bedienen kann, dann ist es angenehm.
Also auch Duldung von gestrandeten Künstlerexistenzen?
Wenn es auffällig provokant ist, dann akzeptiert man es bis heute nicht. Deswegen ist es einerseits eine Duldung, andererseits wird diese Haltung immer noch abgelehnt.
Ist es vielleicht auch die Melancholie, der Reiz am falschen Leben?
Im Stück ist auf alle Fälle eine große Melancholie da, und das macht auch den Reiz aus. Da ist auch diese Verkehrung: Man braucht diese Melancholie, man braucht diese Gegenbewegung, die ganze Palette von himmelhochjauchzend zu den Existenzängsten, um daraus kreativ schöpfen zu können. Das macht zwar diesen Reiz aus, kann aber natürlich auch in der Depression enden. Wir schauen auch, wie die Figur Mimì, die ja außerhalb dieser Künstlergruppe steht, weil sie neu dazukommt, wie sie mit diesen Grenzüberschreitungen klar kommt, ob sie sich der Melancholie hingibt und inwiefern sie vielleicht daran zerbricht.
Schielt man bei der Arbeit zwangsläufig auf den Kinofilm von Kaurismäki?
In der Vorbereitung durchaus. Aber mittlerweile haben wir uns davon gelöst. Es gibt Schauspieler, die sich vehement gewehrt haben, den Kinofilm überhaupt anzuschauen. Das finde ich auch in Ordnung, das muss jeder für sich entscheiden. Kaurismäki hat ja eine ganz eigene Bildsprache, die so gewaltig ist, dass man sie zwangsläufig im Kopf behält. Ich finde auch gut, dass es verschiedene Textvorlagen gibt und nicht nur den Film, mit dem wir arbeiten. Man kann sich durchaus einiger Kaurismäkischer Stilmittel bedienen, aber im Theater muss man dafür eine andere Form und Sprache finden.
Der Raum im Theater Unten ist ja ziemlich klein. Ist das Vorteil oder Nachteil?
Für mich ist das ein Vorteil. Da das meine erste Inszenierung ist, ist das für mich noch ein geschützter Ort. Und ich mag den Raum sehr gerne da unten. Gerade wenn wir über Existenzängste und über Improvisation und Motivation sprechen, finde ich den Ort genau richtig. Es wird bei uns sehr viel um das Spiel gehen, es gibt über 50 Bilder, und es gibt sehr viele Orte im Stück, im Film wechseln die Drehorte auch ständig, und wir versuchen, die verschiedenen Räume darzustellen. Deshalb finde ich es reizvoll, nicht die große Bühnenmaschinerie in Gang zu setzen, sondern das Spiel im Kleinen zu finden.
„Das Leben der Bohème“ I Premiere: 18.12., 19 Uhr I Theater Unten, Bochum I 0234 33 33 55 55
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