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Shari Asha Crosson
Foto (Ausschnitt): Marina Rosa Weigl

„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“

31. Oktober 2024

Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24

Im Interview spricht Shari Asha Crosson über ihre Inszenierung von „Schwindel“ nach dem Roman von Hengameh Yaghoobifarah. Crosson hat die queere Beziehungskomödie für das Theater Dortmund adaptiert.

trailer: Frau Crosson, so ein Theaterstück ist sicher mehr als eine Ansammlung von Neopronomen, oder?

Shari Asha Crosson: Auf jeden Fall – und das hoffe ich doch. Aber für mich ist das überhaupt kein Fokus, mehr eine Lebensrealität. Ich sehe das Stück nicht als Bildungsauftrag. Es ist in erster Linie eine Komödie, die zufällig queer ist. 

Aber bei der Autorin spielt doch Sprache eine enorm wichtige Rolle. Wie schnell kann Sprache heute mutieren?

Das kommt immer darauf an, wie ehrgeizig man ist. Ich sehe das Ganze als sprachliche Versuche und bin da neugierig und offen. Das ist ja auch nichts Neues, dass Sprache sich ständig weiterentwickelt – und das passiert natürlich auch im Theater. Insofern ist das gerade ein Zwischenstand. 

Durchsetzen wird sich genderneutrale Sprache in näherer Zukunft sicher nicht.

Das weiß ich nicht, ob sich das so behaupten lässt. Das kommt sehr darauf an, in welcher Umgebung man sich befindet. Ich kenne Umgebungen und Räume, wo das komplett alltäglich ist und es zum alltäglichen Sprachgebrauch gehört zu gendern und verschiedene Pronomen zu nutzen. Ich weiß nicht, ob das überschwappen kann auf eine Gesamtgesellschaft, finde es jedoch wünschenswert.

Die Autorin widmet ihr Buch den „Schwindelnden und denen, die sie halten.“ Sind queere Menschen Schwindelnde?

Nein, ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde. Ich glaube, dass man manchmal merkwürdige Vermutungen über queere Personen hat. Auch die Behauptung, dass die queeren Personen ganz toll mit sich und miteinander umgehen und eben nie schwindeln oder miteinander immer authentisch sind, sind Annahmen, die auch nicht stimmen. Dass das alles menschlich ist und zusammengehört – darum geht es eigentlich. Und dass wir alle schwindeln. 

Im Deutschen hat das Schwindeln mehrere Bedeutungen – man kann schwindeln, weil einem schwindelig ist oder man kann schwindeln, weil man die Unwahrheit sagt.

Manchmal wird einem auch schwindelig vom Schwindeln und Beschwindeltwerden. 

Worin unterscheiden sich queere Stücke vom Rest der Literatur?

Erstmal gar nicht oder nur durch das Vorkommen queerer Lebensrealitäten. In den letzten zwei Stücken habe ich einfach viel über Liebe und Verbindung und Nicht-Verbindung und den Zeitgeist erzählt. Was vielleicht ein anderer Ansatz sein könnte, wäre die Frage, wie ich mit Theater umgehe. Queer bedeutet für mich hier, dass wir freier, gegen etablierte Strukturen vorgehen und popkulturelle Referenzen einbauen. Aber inhaltlich sehe ich keine Unterschiede. Wir haben genau dieselben Probleme wie alle anderen auch, und sich darin zu finden und eine Gemeinsamkeit zu haben, finde ich sehr schön. Und das ist auch das, wonach ich in meiner Arbeit strebe. 

Wie kann man Hengameh Yaghoobifarahs Roman überhaupt für die Bühne adaptieren?

Meine Prämisse, den Roman zu adaptieren, war, dass ich ein Stück daraus machen darf und nicht den Text präsentieren muss. Das ging aber total klar und insofern hatte ich jegliche Freiheit. Ich musste auch nicht chronologisch erzählen, durfte zusammenschneiden, und ich habe auch Passagen in die Ich-Perspektive gezogen. Wir haben dazu verschiedene Erzählebenen, eine Interview-Ebene, angelegt an diese Realityformate, wo sich die Charaktere viel mehr entfalten dürfen als im Roman und dadurch viel greifbarer werden als dort. Dann haben wir noch eine Video-Ebene, in der dann die explizit sexuellen Szenen angedeutet werden. 

Was soll das den Zuschauenden erzählen?

Einmal will das erzählen, wie lustig alles auch ist. Das ist mir wichtig. Und es will hinterfragen, wie wir miteinander umgehen. Ich finde, gerade die queere Bubble, die selbst sehr dogmatisch sein kann, verliert darin oft den feministischen Anspruch. Das zu hinterfragen, ist mir auch sehr wichtig. Wie können wir zusammenfinden und was ist dieses Zusammenfinden heutzutage noch? Wir wollen nicht mehr so leben wie unsere Elterngeneration, aber es gibt noch gar kein anderes Konstrukt, das auch konstant ist. Und das Wabernde dazwischen erzählt das Stück. Deswegen funktioniert auch unser Setting so toll, weil sie sich hier konstatieren müssen. Meine Generation geht sich gerne mal aus dem Weg, ghosted (in etwa: ignoriert, Anm. d. Red.) sich, vermeidet sich. Wir müssen wieder anfangen, wirklich zu reden, authentisch zu reden und miteinander zu sein. 

… und aus dem Dortmunder Studio wird das Dach des 15-stöckigen Hochhauses?

So ist das. 

… und die Geschichte hat da oben ein Happy End?

Ich glaube, das bleibt offen. Das ist individuell, ob das als Happy End gelesen wird oder nicht. 

Wen soll „Schwindel“ erreichen?

Alle. Für mich gibt es da niemanden, der nicht erreicht werden soll. Ich mache am liebsten Stücke, die zugänglich sind für alle und verfolge einen starken antiklassistischen Anspruch. Wenn eine Ebene von einer Person nicht verstanden wird, dann hat sie genug zum Lachen, zum Kucken und die anderen Ebenen. 

Bleibt dann nicht nur ein komödiantisches Lehrstück?

Auf gar keinen Fall – bitte nein.

Schwindel | 8. (UA), 10., 21.11. | Theater Dortmund, Studio | 0231 502 72 22

Interview: Peter Ortmann

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