Im Interview spricht Intendant Olaf Kröck über das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele, die sich unter dem Motto „Vergnügen und Verlust“ mit der Komplexität von Lebensentwürfen befassen.
trailer: Herr Kröck, die Rentenkassen leeren sich bedenklich, müssen bei den diesjährigen Ruhrfestspielen die Großmütter deshalb auf der Bühne tanzen?
Olaf Kröck: Ja, die Rentnerinnen tanzen auf der Bühne der Ruhrfestspiele. Weil sie für die Ruhrfestspiele in der Tradition des Arbeiterfestivals eine wichtige Gruppe von Menschen sind. Es gibt einige Gruppen weltweit, von denen die Aufmerksamkeit wegrutscht in einer Zeit, in der Aufmerksamkeiten sich immer mehr beschleunigen und über Social-Media-Kanäle die berühmten 15 Minuten von Andy Warhol eher 15 Sekunden sind, die sich jeder jetzt so weltweit gönnt. Und „Dancing Grandmothers“ aus Südkorea ist eine unglaublich berührende Arbeit, die die Aufmerksamkeit auf Biografien lenkt, die sonst nicht gesehen werden. Die Frauen, die auf der Bühne stehen, sind selbst Bäuerinnen und Arbeiterinnen gewesen, haben das ganze 20. Jahrhundert erlebt, den Zweiten Weltkrieg, die Teilung und die rasante technologische Entwicklung ihres Landes und jetzt die Bedrohungen durch den nördlichen Nachbarn.
Dann habe ich noch die alte Pennäler-Geschichte vom Bahnwärter Thiel gefunden. Kommt jetzt wieder die alte Schule?
Nein. Die Ruhrfestspiele sind sich bewusst, dass sie ein Festival mit großer und langer Geschichte sind. Und wenn das auch schon viele andere schlaue Menschen gesagt haben: Man kann Zukunft nur gestalten, wenn man Geschichte und Vergangenheit kennt und auch versucht, sie zu verstehen. Deswegen gehört zu uns das Lernen von den Alten und ich weise, wenn wir gerade von Literatur reden, gerne noch auf einen nahezu unbekannten Text hin: Corinna Harfouch liest „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ von Cordelia Edvardson. Das ist eine so erschütternde Shoah-Biografie, die jetzt wiederentdeckt worden ist und die eine Bühne braucht. Ich halte es für sehr, sehr wichtig, dass wir das Alte im Blick behalten.
So ganz neu ist die jüdische Geschichte vom bösen Totengeist Dibbuk ja nun auch nicht, oder?
Im Gegenteil. Das Neue an dieser Geschichte und deswegen dieser alte Stoff, ist das multinationale Ensemble, das tatsächlich aus Afghan:innen und jüdischen Israelis, Deutschen, Russen, u. a. besteht und damit versammelt sich die gesamte Geopolitik in diesem Ensemble. Die Spieler:innen gehen miteinander emotional durch einige Herausforderungen, aber das Ziel ist die gemeinsame Theaterproduktion.
Aber es soll kein Stress mit palästinensischen Aktionsgruppen geben?
Nein. Weil die Produktion das auch formuliert. Es bestürzt mich, dass nach dem 7. Oktober für die israelische Opferseite so erschütternd wenig Empathie gezeigt wird. Es muss auch Mitgefühl für das große Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung geben. Aber ich finde es vermessen, dass einige Kultureinrichtungen und einzelne Künstler:innen in dem komplexen geopolitischen Spiel mit simplifizierenden Parolen kommen. Natürlich ist auch mein großer Wunsch Frieden. Aber wir müssen scharf auf die Opfer beider Seiten blicken und nicht vergessen: Die Hamas ist eine Terrororganisation. Ihr ist das Leid der Menschen auf beiden Seiten völlig egal. Das ist abstoßend.
Im Gegensatz zu ihrer Intendanz in Bochum: Macht ein Jahr Planungszeit die Auswahl für einen Spielplan leichter?
Ja. Trotzdem ist uns die Auswahl diesmal nicht so leicht gefallen. Nachdem während Corona eine Überproduktion stattgefunden hat, ist die Suche seit letztem Jahr wieder langwieriger. Aber es ist großartig, dass wir wieder Zeit haben, Arbeiten live anzuschauen und mit Künstler:innen direkt sprechen können.
2024 will Deutschland ja wieder ein Sommermärchen und dafür zeigen die Ruhrfestspiele ein Fußballdrama über eine Nacht 1982 in Sevilla. Ich bin ja seitdem Toni Schumacher-Fan.
Das ist auch ein Held meiner Kindheit, weil er so eine richtige Type ist. Aber um das klarzustellen, für mich ist im Augenblick die echte Fußballnationalmannschaft die der Frauen. Und die hat dieses Jahr keine EM. Die Herren haben ja noch den Beweis zu liefern, ob sie so ein Turnier bestehen. (lacht) „Die Nacht von Sevillia” ist ja nicht nur Fußballgeschichte, sondern auch ein politischer Stoff, der durch den Zusammenprall von Toni Schumacher und Patrick Battiston ja auch zu politischen Verwerfungen geführt hat. Was da dranhängt an emotionalen Ballungen, das ist es, was mich interessiert. Das ist ja eine sehr besondere Nacht gewesen.
Spricht man über Fußball, spricht man über die Polizei – ist das zwangsläufig, wenn ich da an die Koproduktion des Schauspiels Hannover mit der werkgruppe2 denke?
Dieses Projekt haben wir schon lange geplant. Es hat uns beschäftigt, was es bedeutet, ein Polizist oder eine Polizistin zu sein. Und zwar vorurteilsfrei. Dass da politische Perspektiven unterschiedliche Positionen ausleuchten, ist klar. Ein Thema wären die rechtsradikalen Chatgruppen, die erschüttern, weil sie bedeuten, dass diese Gesetzeshüter:innen nicht auf dem Boden der Verfassung stehen. Dann das Stichwort Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols: Polizist:innen werden z. B. benötigt, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, wie bei der Räumung im Braunkohlerevier. Für das Projekt wurden u. a. Polizist:innen während der Räumung von Lützerath begleitet. Die Künstlerinnen sind während des ganzen Einsatzes ausschließlich auf der Seite der Polizei geblieben und haben sich mit der Frage beschäftigt, was das für die Polizist:innen heißt, die da eingesetzt werden. Es kommen Einsatzkräfte zu Wort, die ein sehr differenziertes Bild zeigen werden, auch aus der Innensicht. Es geht um Polizei jenseits der Klischees.
Es gibt auch eine Reise ins All – hat das Elon Musk finanziert?
Nein, hat er nicht. Beim Kawumm-Projekt, das wir zum dritten Mal in Folge machen, spielen Menschen mit und ohne Behinderung und die betreuenden Personen in einem großen Projekt auf der Bühne. Mit den Mitteln des Theaters erzählen sie gemeinsam eine Geschichte – diesmal unter dem Titel „Ob wir nun wollen oder nicht!”. Es ist ein tolles Beispiel für Empowerment und das gemeinsame Tun. Und es hat künstlerisch einen großen Output durch das Sichtbarmachen von Lebensrealität. Das finde ich für die Ruhrfestspiele insgesamt unglaublich wichtig. Wir wollen die Komplexität von Lebensrealitäten präsentieren.
Gibt es überhaupt noch Karten?
Die Ruhrfestspiele sind nie ganz ausverkauft. An der einen oder anderen Stelle sind im Augenblick keine Karten mehr verfügbar. So einen gewissen Taylor Swift-Moment haben die Ruhrfestspiele also schon erlebt.
Ruhrfestspiele Recklinghausen 2024 | 1.5. - 8.6. | Ruhrfestspielhaus Recklinghausen und weitere Orte | 02361 91 80
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