Rapunzel, Rapunzel, lass dein langes Haar herunter. Der Blick aus dem Turm kann weit und schön sein – doch jeden verdammten Tag? Reisen bildet, so ein Sinnspruch. Manchmal tötet es aber auch – denken wir an einen beliebten Strand am Mittelmeer – die letzten Gehirnzellen ab. Da hilft dann nur noch eine finnische Sauna, die bekanntlich überall installiert werden kann. Finnland. Wer sagt, dass Stadttheater im Ruhrgebiet nicht international sein können?
Schauen wir nach Bochum ans Schauspielhaus, ins Theater Unten. Dort inszeniert Maren Watermann das Stück „Finnisch“ von Martin Heckmanns. Eine poetische Reise durch die Sauna der Gefühle. Eine Postbotin ist hier der Aufguss für die Sehnsucht eines jungen Mannes, der sich selbst ein Paket schickt, um sie wiederzusehen, und er ringt bereits um seine ersten Worte an die Postbotinnenschönheit: „Und ich sage schön – vielleicht – dass du da bist – schön.“ Dass „Finnisch“ auch als Oberflächen-„Finish“ oder der Endlauf ins Ziel gedeutet werden soll, ändert nichts an der geistigen Reisetätigkeit, die schon vielen Gelehrten auf die Sprünge geholfen hat.
Bestes Beispiel dafür ist und bleibt Dr. Faustus vom ollen deutschen Literatengott Johann Wolfgang von Goethe. Wie der haderte auch der Herr Geheimrat oft mit seinem Leben, manchmal waren es die viel zu jungen Frauen, ein anderes Mal gingen seine naturwissenschaftlichen Experimente in die Hose. Kein Wunder also, dass die Inszenierung von „Faust I“ von Pedro Martins Beja am Theater Oberhausen den Faust als alternden Intellektuellen zeigt, der durch die nostalgische Sehnsucht (früher war alles besser – auch die Drogen) nach Gemeinschaft und Jugendlichkeit verführbar wird. Dieser Zustand erweckt bei Beja das Interesse Gottes, der nun mit Mephistopheles über Faust spekuliert. Der scheint zu gewinnen, denn auch Gretchens Liebe kann Fausts Rastlosigkeit kein Ende setzen.
Was im Faust I noch gesunder Pessimismus war, kann in der Zukunft schon eine zynische Dystopie werden. Aber selbst dort wird die Reise zum Neuanfang, zum Ausbruch aus der nur gedachten Sehnsucht nach einem weiteren Gedankenaustausch mit Marie23. Für Dr. Faustus hätte diese Welt in Michel Houellebecqs Science-Fiction-Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ vielleicht eine Alternative sein können, hat der Neo-Mensch dort durch Klonen doch fast Unsterblichkeit erreicht. Doch irgendwas fehlt wieder. Erinnern wir uns. Reisen bildet? Denn wieder ist eine Insel im Mittelmeer mit im Spiel und auch eins von des Deutschen liebsten Haustieren. Ob diese Vision tatsächlich erstrebenswert ist oder man besser als Normalo-Rest-Homo Sapiens seinealten Stammesangehörigen wieder mal verspeist – das zeigt Jörg Fürst in Mülheim bei der Roman-Adaption von dem Theater der Generationen innerhalb der Volxbühne.
„Finnisch“ | R: Maren Watermann | Premiere: Fr 13.1. 19 Uhr | Theater Unten | 0234 33 33 55 55
„Faust I“ | R: Pedro Martins Beja | Premiere: Fr 20.1. 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
„Die Möglichkeit einer Insel“ | R: Jörg Fürst | Premiere: Fr 20.1. 19.30 Uhr | Volxbühne, Mülheim | 0208 43 96 29 11
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