Hier kommt keiner raus! „Gesichert“ brüllen die Schauspieler, und dann knallen die Saaltüren des Oberhausener Theaters zu. Kein Entkommen, das Theater als sicherer Raum, in dem abgeschottet gegen die Gesellschaft deren Probleme verhandelt werden. So geschlossen die Bühne sich nach außen präsentiert, im Innern sind die Barrieren niedergelegt. Teile des Publikums sitzen auf der mit Computern, Bildschirmen, Servern möblierten Bühne, von der Stufen direkt ins den Zuschauerraum führen. Das Theater als öffentlicher Raum, in dem von den großen Aufständen der Gegenwart die Rede sein soll. Nicht differenziert, sondern nur als Schlagwort, Pathosformel und Erlebnisraum: Syntagma-Platz, Tahrir-Platz, Taksim-Platz. Fürs richtige Feeling muss allerdings erstmal Gemeinschaft gestiftet werden: Alle müssen Händchen halten, danach Sirtaki tanzen – heute geht keiner ohne Animation nach Hause. Sarkastischer als Babett Grube kann man das Theater nicht vorführen. Die junge Regisseurin verfügt für ihre „Antigone“-Inszenierung über eine einleuchtende konzeptionelle Idee, die allerdings in einem inszenatorischen Desaster endet.
„Antigone“ von Sophokles gilt als paradigmatisches Stück des Widerstands. So wie „Othello“ die Eifersucht oder „Faust“ den Wissendrang ins Zentrum stellen, so untersucht der antike Klassiker das Verhältnis von Individuum und Staat am Beispiel der Titelheldin, die über die Beerdigung ihres Bruders Polyneikes mit König Kreon in Streit gerät und am Ende unterliegt. Babett Grube fragt nach dem fortlaufenden Scheitern von Aufstand und Protest. „Antigone“ von Sophokles dient dazu jedoch allenfalls als Steinbruch. Das aktionistische Gruppen-Kuscheln von Antigone, Ismene sowie den toten Brüdern Polyneikes und Eteokles deuten nicht nur auf die 1960er Jahre, sondern auch auf das Problem der Ästhetisierung von Widerstand im Happening. Schon da zeigt sich allerdings, dass die kompilierten Texte, die szenische Prägnanz und dramaturgische Verdichtung kaum über Improvisationsniveau hinauskommt. Von Charakteren kann keine Rede sein. Ein Darsteller machte sogar aus seiner Unwilligkeit kein Hehl. Weiter geht es dann mit Psychotherapie: Mutter Iokaste nötigt die verlotterte Bagage mit therapeutischem Einfühlungssprech zur Familienaufstellung. Antigones Lover Haimon schwärmt vom Selbstversorgerdasein im Eigenheim und indischen Bestattungsritualen. Papa Kreon schließlich zelebriert sozialpädagogische Politrhetorik zwischen Schulz und Merkel. Ein Parforceritt von den 1960ern bis in die Gegenwart. Kunst, Therapie, Familie, Ökologie, Esoterik, Politik – viele gesellschaftliche Segmente tragen zur Konfliktvermeidung und -entschärfung bei. Doch ein kluges Konzept macht noch keinen guten Theaterabend. Das Etikett „Antigone *nach* Sophokles“ hilft da auch nicht, mehr als ein rhapsodischer Kommentar wird nicht geboten – weshalb einige Zuschauer die Premiere zu Recht noch während der Vorstellung verließen.
„Antigone“ | R: Babett Grube | So 29.10., So 12.11., So 19.11. 18 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
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