Manchmal sind Bühnenstücke dann am besten, wenn sie den Theatersaal leer spielen. Aber das gelingt den Darstellern in der Inszenierung des Zentrums für Politische Schönheit an diesem Abend nicht – so sehr sie die Gestalten in Abendgarderobe auch provozieren und beschimpfen: „Sie bleiben einfach nur Publikum“, seufzt Uwe Schmieder als einer der Philosophen nur noch, nachdem er zuvor cholerisch herum polterte, dass nach Hitlergruß-Einlage inklusive Aufforderung zum Mitmachen, die Buh-Rufe ausgeblieben sind. Noch einmal zuckt es cholerisch durch ihn: „ZUSCHAUER!“
Er gehört zu den vier Philosophen, die im Stück „2099“ des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) ins Jahr 2015 zurück reisen, um über die Katastrophen des 21. Jahrhunderts aufzuklären. Bekannt geworden ist das ZPS mit politischer Aktionskunst: Für Aufsehen sorgten zuletzt die Aktionen „Die Toten kommen“ oder der „Erste Europäische Mauerfall“, in denen die brutale Abschottungspolitik an den EU-Außengrenzen angeprangert wurde.
Die Emanzipation ist weiß und männlich
So entspricht auch „2099“ wenig überraschend dramaturgischen Konventionen: Als die Philosophen aufklären, dass bis zum Jahr 2032 sechs Millionen Menschen an Hunger, Krieg und Armut sterben werden, es nicht beim so genannten ersten Holocaust bleiben werde, vermisst man auf der Bühne eine wütende Reaktion: „Ihr sitzt da nur. Ihr tut nichts. Habt Ihr nicht geschworen: nie wieder Auschwitz?“
Drei moralische Kategorien gebe es, wie die Philosophen schließlich aufzählen: Täter, Opfer und Zuschauer. Und vor allem letztere Kategorie wird hier als jämmerlicher und schuldiger Taugenichts im Theatersessel erniedrigt, fast erdrückt. Im anschließenden Publikumsgespräch gibt es alles zurück. So wird vor allem kritisiert, wer diese moralische Prügelorgie anzettelt: weiße Männer in schwarzen Anzügen bringen die Weisheit. Für das Aktionskunstteam sei das aber auch ein Clou der Performance: „Warum seid Ihr denn nicht gegangen? Das wäre eine Reaktion gewesen, mit der wir leben können“, so Uwe Schmieder. „Ich wünsche mir wirklich, dass da mal jemand aufsteht und sagt: seid doch nicht so arrogant, Ihr Arschlöcher.“
Aufklärung über den wirklichen Horror
Wie man auch immer zu den Vorwürfen steht, „2099“ ist mehr als heiße Luft. Denn das Aktionskunstkollektiv bringt frischen Wind in den Theater-Betrieb, in dem außer Jelinek oder Castorf oft nicht viel geht: Politische Poesie, die man viel zu selten auf der Bühne sieht, und ein großkotziger Pathos, der einfach nur herrlich ist.
Denn die Frage, mit der dieser moralische Sturmtrupp den ganzen Abend auf der Bühne wütet, ist berechtigt – und sie wird mit Krach, mit dröhnender Empörung durchdekliniert: Wie wird man über uns in hundert Jahren politisch urteilen? Wie wird man das Jahrhundert bilanzieren können? Mit gleichgültigem Blick auf Katastrophen, die wir hätten verhindern können? Dass es darauf nur schwer eine Antwort gibt, ist den vier Philosophen auf der Bühne genauso klar wie die kommenden Leichenberge.
„Wir bieten uns an, zu scheitern. Also können auch die Zuschauer mit uns scheitern“, erklärt Darsteller Björn Gabriel im anschließenden Publikumsgespräch. Gemeinsames Scheitern – das ist an diesem Abend Programm. Im Saal herrscht Schweigen. Als liefe die lärmende Performance ins Leere. Eine radikale Masturbation. Denn ein Publikum ist die Hölle. Die Verkörperung der Passivität. Das ist der wirkliche Horror, über den das Zentrum für Politische Schönheit aufklärt.
Weitere Termine: Fr 13.11, Fr 8.1.16. Mi 13.1.16, jeweils 19.30 Uhr | www.theaterdo.de
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