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Bernhard Docke
Foto: Benjamin Trilling

„Die Welt ist ein Stück weit aus den Fugen geraten“

02. Januar 2023

Bernhard Docke über die Entwicklung der Menschenrechte – Spezial 01/23

trailer: Herr Docke, Andreas Dresen hat die rechtswidrige Inhaftierung von Murat Kurnaz im Gefangenlager Guantánamo verfilmt. Welche Bedeutung hatte der Fall für ihre Anwaltskarriere?

Bernhard Docke: Dieses Mandat war mit dem unfassbaren Skandal verbunden, dass der US-amerikanische Präsident im 21. Jahrhundert den Lichtschalter des Rechtsstaats ausknipste und Leute, die er als verantwortlich für 9/11 hielt, rechtskulturell in das Mittelalter zurückschickte: Keine Verfahrensrechte und Folterfreigabe, maximal rechtswidrig. Das war für mich eine unfassbare Provokation, die mich motivierte, in diesem Fall zu helfen.

Worin bestanden die Herausforderungen?

Man muss sich vergegenwärtigen, was ein rechtsfreier Raum bedeutet: Der Präsident ordnete kraft Exekutivmacht an, dass alle gängigen Rechtsschutzmechanismen und Menschenrechte nicht mehr gelten. Das heißt: Wir wussten nicht, wann, wo und warum Kurnaz festgenommen wurde, was ihm vorgeworfen wird oder wie es ihm geht. Kein Haftbefehl, keine Akte, keine zuständige Behörde oder Gericht. Es gab eine Kontaktsperre und keine Aussicht auf ein Verfahren. Weil in Guantánamo alles außerhalb der Öffentlichkeit stattfand, hatten wir nur die dumpfe Ahnung, dass dort gefoltert wird. Diese Sorge stellte sich als richtig heraus. Um Kurnaz aus dieser Hölle herauszubekommen, mussten wir die Grundlagen des Rechtsstaates erst einmal erstreiten; mit dem Ergebnis, dass der Supreme Court erklärte, dass der Präsident die Inhaftierten in Guantanamo nicht komplett rechtslos stellen darf. Damit begann für uns die Chance, den Fall Kurnaz überprüfen zu lassen.

Dass Obama es nicht schaffte, Guantánamo zu schließen, ist seiner eigenen Verzagtheit geschuldet. Er hätte in dem Momentum seines Wahlsiegs schnell handeln müssen. Auch Biden kündigte eine Schließung an. Aber ich bin skeptisch, dass das geschieht. Denn die USA schuf sich mit Guantánamo ein Problem: Die verbliebenen Gefangenen bezeichnet das Pentagon nämlich als „toodangerous to release“ and „too difficult to prosecute“. Sie seien zu gefährlich für eine Freilassung, weil die Inhaftierten 20 Jahre gefoltert wurden. Deswegen besteht aus Sicht des Pentagons die Gefahr, dass sie nach einer Freilassung den USA nicht wohlgesonnen sind. Eine Anklage erscheint wiederum schwierig, weil die Beweislage durch Folter kontaminiert wurde, die vor US-amerikanischen Gerichten keinen Bestand haben darf. Die USA scheuen sich vor einer Blamage bei Freisprüchen. Vor diesem Hintergrund besteht eine blockierte Situation für die verbliebenen Insassen.

Welche Folgen hatte der „Krieg gegen den Terror“ für die Völker- und Menschenrechte?

Guantanamo gab ein negatives Exempel, einen Sündenfall der USA, die sich bisher gerne selbst als Leuchtturm der Menschenrechte verstanden und andere Länder für Verstöße kritisierten. Seit 9/11 fand ein Downgrading der Menschenrechte statt. Seitdem verweisen zunehmend andere Länder darauf, dass die USA sich selbst nicht daran halten. Dadurch hat die Autorität des Völkerrechts stark gelitten. Die Konsequenzen zogen sich von Abu Ghraib, über den Irakkrieg bis hin zum ebenso völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die Welt ist ein Stück weit aus den Fugen geraten.

Inwiefern lässt sich ein Downgrading der Menschenrechte auch hierzulande beobachten, wenn man etwa an die Vorbeugehaft von Klimaaktivisten denkt?

Die Vorbeuge- oder Unterbindungshaft in Bayern umweht ein Hauch von Guantanamo. Die Haft stützt sich nicht auf einen Tatverdacht für begangene Straftaten, sondern auf die Unterstellung künftiger, also in der Zukunft liegender Taten. Es erinnert an den Film „Pre-Crime“. Man geht auf Grundlage einer sehr dünnen Beweislage davon aus, dass jemand was tun könnte und dass man ihn durch eine Haft davon abhalten muss. Ich halte davon genauso wenig wie von der Verteufelung der „Letzten Generation“. Es ist unmöglich, sie in Zusammenhang mit der RAF zu bringen. Man sollte vielmehr die Verzweiflung der jungen Menschen berücksichtigen, deren Zukunft zerstört wird. Dass sie mit ihrem Protest darauf hinweisen, ist berechtigt. Ihre Aktionen sind gewaltfrei und friedlich. Der Staat wäre daher gut beraten, die Aufgaben, die das Bundesverfassungsgericht mit dem Klimaurteil stellte, ernst zu nehmen und damit auch die Sorgen derjenigen, die sich mit einem hohen persönlichen Risiko auf Straßen festkleben.

Interview: Benjamin Trilling

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