In Bruckhausen, etwa neun Kilometer vom Dellplatz entfernt, dem Festivalzentrum der Duisburger Filmwoche, liegt eine Siedlung, über der die Abrissbirne wie ein Damoklesschwert hängt. 175 Häuser sollen dort abgerissen werden, um einen „Grüngürtel“ zwischen dem einstigen Vorzeigestadtteil Bruckhausen und den Thyssen-Krupp-Werken zu schaffen. Nach zähen Verhandlungen mit Eigentümern und Mietern sieht sich die Stadt bei den letzten Grundstücken nun gezwungen, ein Enteignungsverfahren einzuleiten. Für die Mieter bedeutet das so der so: raus da! Ein Prozedere, das seit April dieses Jahres für viel Diskussionsstoff gesorgt hat, zeigt es doch, wie schroff Bürger- und Stadtinteressen aneinanderstoßen können, wenn es um (neue) Lebensräume geht. Lebensräume werden auch bei der 36. Auflage der Filmwochen zu sehen sein, wenngleich hier vor allem der fragile Bildraum der Kamera für Gesprächsstoff sorgen dürfte. Dennoch startet das Festival um den langjährigen Leiter Werner Ruzicka im Duisburger Raum – genauer gesagt im südlichen Hüttenheim. Dort schauten Florian Pawliczek und Andy Michaelis in ihrem Film „Stahlbrammen und Pfirsiche“ auf die Stahlöfen in den Werken von Krupp-Mannesmann (Mo 5.11. 20 Uhr).
Weniger Lokalkolorit, dafür eine persönliche Verzahnung von Familien- und Weltgeschichte kann man in Pary El-Qalqilis „Schildkrötenwut“ sehen. Die in Berlin-Zehlendorf geborene Regisseurin portraitiert darin das Verhältnis zu ihrem Vater, der nach jahrelangem Kampf für die palästinensische Autonomie nun bei der Familie in Deutschland lebt, allerdings verkrochen, im Keller des Hauses. El-Qalqili pendelt in ihrer Erzählung zwischen einer persönlichen Annäherung an ihren Vater (im Keller) und der Suche nach seiner verlorenen Heimat. Dabei wird die Regisseurin selbst zum treibenden Handlungselement (Do 8.11. 9 Uhr). Weniger als die „Schildkrötenquadratmeter“ bleibt den Insassen in „Thorberg“: Das im Volksmund „Alcatraz der Schweiz“ genannte Gefängnis interessiert Regisseur Dieter Fahrer aber weniger. Es ist mehr die Portraitierung der Häftlinge, ihrer Schicksale und ihrer psychischen Belastung, die in „Thorberg“ dominieren. Abgesehen von ein paar latent pathetischen Musikeinspritzern gelingt ihm eine nüchterne Fragestellung über die Funktion von Orten wie Thorberg für die Resozialisierung von schweren Straftätern, die hier als Menschen gezeigt werden (Mi 7.11. 17 Uhr). An einen anderen Rand der menschlichen Zivilisation geht der Münchener Sven Zellner. In der mongolischen Wüste Gobi begleitet er über ein Jahr lang illegale Goldgräber, abseits jeglicher Urbanität und häufig mit nicht mehr als der Hoffnung auf Edelmetall beladen. Zugleich schafft Zellner, der Mongolisch spricht und für seinen Debütfilm vier Jahre um die Gunst seiner Protagonisten warb, einen Einblick in die postnomadische Mongolei (Sa 10.11.15 Uhr).
Auch alte Bekannte des Festivals wie Nikolaus Geyrhalter, Harun Farocki oder Stanisław Mucha sind wieder zu Gast und stehen – wie auch alle anderen Regisseure – traditionsgemäß für Diskussionen zur Verfügung. In der Zwischenzeit widmet sich ein Dokumentarfilmer vielleicht dem Schicksal von Bruckhausen. Die Stadt Duisburg wäre mit einem „Image-Film“ für ihre „grüne Stadtplanung“ sicherlich einverstanden.
36. Duisburger Filmwoche I 5.-11.11. I Filmforum am Dellplatz Duisburg I www.duisburger-filmwoche.de
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