Nicht viele Filmfestivals in Deutschland können auf 34 Jahre Geschichte zurückblicken. Als die Duisburger Filmwoche 1977 ihre Premiere feierte, zeichnete sich langsam aber sicher ab, dass die Kohle- und Stahlindustrie nicht für immer das Rückgrat der Stadt bleiben würde. Heute wird Duisburg oft als Kontrast aus städtebaulich-abenteuerlichen Spielplätzen und verbliebenen, einkommensschwachen Arbeitervierteln dargestellt. Der Innenhafen, das Eurogate oder das Stadtfenster-Projekt sollen mehr Beschäftigung und damit mehr Hoffnung in Aussicht stellen. Insofern passt „Horizont“, das diesjährige Motto der Filmwoche, nicht nur auf das Wesentliche des Filmbildes, nämlich seine Begrenzung, sondern auch auf den Festivalort selbst.
Sechs Tage lang Ausschnitte, Einblicke und Momentaufnahmen aus dem filmischen Kontakt mit der Realität. Und nicht zuletzt mit den visuellen Spuren ihrer Vergangenheit. In „Liebe Geschichte“ wickeln Simone Bader und Jo Schmeiser die Verarbeitungsmechanismen Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit zwischen 1950 und 2010 auf. Parallel dazu erzählen Töchter und Enkelinnen von ihren Erfahrungen mit Tätern und Täterinnen. Die Täterfrage lauert ganz unvermutet in Philip Scheffners „Der Tag des Spatzen“. Ein Spatz und ein deutscher Soldat in Afghanistan kommen am selben Tag ums Leben. Zufall? Sicher. Doch nach und nach nähert sich der Regisseur über den Lebensraum der Spatzen den Übungsplätzen einer Bundeswehr, die im Krieg zu sein scheint, dies aber verborgen halten will. Zu idyllischen Vogelstudien schleichen aus dem Off Erfahrungsberichte von Soldaten über psychische Labilität, Alkoholismus und Jagdbombereinsätze in Afghanistan heran. Daheim werden dagegen bereits Schauprozesse gegen Antimilitaristen geführt. Eine als Naturfilm getarnte, subversive Kriegsdokumentation. Weniger subtil, dafür bildgewaltig geht Erwin Michelberger dem Phänomen Tod und dessen Bedeutung in den drei großen Weltreligionen nach. Mit ikonografischer und symbolischer Bildsprache hält er in seinen Einstellungen das sensible Verhältnis von Tod und Dokumentation im Gleichgewicht. Dazu lässt er Totengräber, Kinder, Prediger und Gläubige vor einen himmlischen Hintergrund gesetzt in einen zusammenmontierten, interreligiösen Dialog treten. Beeindruckend bleibt, wie aus den Bildern der Bestattungspraktiken die Transzendenz als Leitthema visuell durchdringt. Man möchte manchmal gar von einer Ästhetik des Todes sprechen.
Neben der Dokumentationswoche läuft parallel das doxs!-Programm. In kostenlosen Schulvorstellungen können Klassen hier internationale Dokumentarfilmproduktionen sehen und später unter professioneller Anleitung eine eigene Kritik verfassen. Die regulären Beiträge werden am Samstagabend ausgezeichnet. 20.000 Euro Preisgeld verteilen sich hier auf sechs Kategorien. Zum Schluss darf man sich Guy Debords kritischem Manifest „Die Gesellschaft des Spektakels“ hingeben. Hier ist die Realität bereits nicht mal mehr am Horizont zu sehen. Aber wo ist sie zu finden? An Duisburgs neuem Innenhafen?
34. Duisburger Filmwoche I 1.11.-7.11.
Filmforum Duisburg
www.duisburger-filmwoche.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wenn Kino Schule macht
Die Reihe Filmgeschichte(n) spürt Schulgeschichten auf – Festival 05/24
Die inneren Mauern fallen lassen
Schwules Filmdrama über Ängste und Identitätsfindung in der Queer Film Nacht
Große Stars und kleine Leute
Außergewöhnliche Biografien bei „Stranger than Fiction“ – Festival 01/18
Kino für Flüchtlinge
Kinoprogrammpreisverleihung im Gloria-Theater – Kino 11/15
Dokumentarfilm attraktiv machen
Bei der Duisburger Filmwoche waren Jugendliche und Kinder das Thema - Festival 11/12
Begehrte Lebensräume
Wo die Linse hinfällt: die 36. Duisburger Filmwoche vom 5.-11. November – Festival 11/12
Der neue Materialismus
Viele „Stoffe“ vom 7.-13.11. bei der Duisburger Dokumentarfilmwoche – Festival 11/11
Kino als Schule
Im Filmforum Duisburg kann man Filme sehen lernen - Kino.Ruhr 04/11
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
Filmgeschichten, die das Leben schreibt
Neue Dokumentarfilme aus einer verrückten Welt – Festival 01/24
Grenzen und Gewalt
31. Filmfestival blicke in Bochum – Festival 12/23
Humanoide Blumen
„Speaking Flowers“ beim Filmfestival blicke – Festival 12/23
Hattingen, Tian’anmen, Weltall
Weitblick-Preis für „Hochofen II“ beim Filmfestival blicke – Festival 12/23
Kino galore
European Arthouse Cinema Day 2023 – Festival 11/23
Komplizinnenschaft
Das IFFF bietet einen Blick auf feministische Solidarität – Festival 04/23
„Man muss sich über alte Zöpfe Gedanken machen“
Clemens Richert zur 44. Auflage der Duisburger Akzente – Festival 03/23
„Die Sichtung ist das Highlight!“
Katharina Schröder zum 30. Jubiläum des blicke Filmfestivals – Festival 01/23
Mehr als Ruhrgebietsromantik
Filmfestival blicke: Jubiläumsauftakt im Bahnhof Langendreer – Festival 12/22
An die Arbeit
Filmfestival blicke: Sonntagsmatinee in Bochum – Festival 12/22
Herbstzeit – Kinozeit
European Arthouse Cinema Day – Festival 11/22
Soziale Beziehungen im Brennpunkt
Filmfestival blicke in Bochum – Festival 11/22
Feministische Gegennarrative
Das Internationale Frauen* Film Fest kehrt zurück ins Kino – Festival 03/22
Einzelkämpfer und Einhörner
„Futur 21“ startet mit Kurzfilmen zur Zukunft der Arbeit – Festival 03/22