Alles entgleitet ins Digitale. Kein Aufhalten. Sogar der Überwachungsstaat lässt sich nun mit Bundestrojanern realistischer darstellen als mit Spitzeln aus Fleisch und Blut. Bitte nichts anfassen, nur Klicken. „Stoffe“ lautet der Titel der 35. Duisburger Filmwoche. Der Festivalflyer zeigt kopflose Gestalten in Arbeitskleidung oder im Trainingsanzug, Echt und Analog zum Anfassen nah. 25 Dokumentarfilme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gehen vom 7. bis 13. November auf Tuchfühlung mit der Realität, parallel dazu feiert das Kinder- und Jugenddokumentarfilmfestival „doxs!“ mit zahlreichen internationalen Beiträgen sein zehnjähriges Jubiläum.
Der Eröffnungsfilm blickt auf den im April 2010 verstorbenen Regisseur Werner Schroeter zurück. Schroeters langjährige Weggefährtin und Kamerafrau Elfi Mikesch hat seine Arbeit, sein Werk und den Kampf Schroeters gegen den Krebs in ihrem Film „Mondo Lux – Die Bilderwelten des Werner Schroeter“ portraitiert. Überdurchschnittlich präsent im Programm ist diesmal der Kontinent Afrika, seien es politische Ereignisse wie in den nordafrikanischen Staaten oder dauerhafte Themen wie die Flüchtlingswellen von Afrika nach Europa. In letzteres Thema gibt Maria Fassbinder mit „Fremd“ einen Einblick. Sie begleitet den Malier Mohammed auf seinem Fluchtversuch, bei dem er Jacques, der ebenfalls nach Europa will, trifft. Ein Stop‘n’Go-Trip, Zahlen, um näher an die Grenze zu kommen, Arbeiten, um Geld zu verdienen, wieder Zahlen, um voranzukommen, ohne Obdach und stets auf der Hut vor Polizei und Militär. Fassbinder schafft eine beeindruckende Unmittelbarkeit, die den Flüchtling als Menschen zeigt, ohne dass ihr Film sich mit empathischen Szenen aufdrängen muss (8.11., 16.30 Uhr). Neue Bilder aus Afrika gibt es auch in Juliane Henrichs „Tahrir im April“. Die Autorin begab sich zwei Monate nach dem Regimesturz auf den zentralen Platz Kairos und sammelte Eindrücke von dem Ort, der inzwischen repräsentativ für den arabischen Frühling steht (11.11., 23.30 Uhr). Der Senegalese Serigne Touba war ein islamischer Prophet und Gegner der französischen Kolonialmacht, so erzählt man. Inmitten eines Netzes aus Bildern, Legenden, Nachfahren und Traumerscheinungen subsistiert ein einziges Foto vom Propheten, unauffindbar, unzählige Male vervielfacht. „Der Schatten des Propheten“ führt auf eine uneindeutige Reise zwischen Islam, Kult und der Suche nach nationaler Identität (10.11., 12 Uhr). Zurück ins „Abendland“: Im gleichnamigen Film nähert sich Nikolaus Geyrhalter mit einer narrativlosen Bilderreihe einem Europa in den Nachtstunden. Meistens beobachtet die Kamera in statischen Einstellungen andere beim Beobachten. Passanten, Areale, Pfleger, Polizisten, Sicherheitskräfte – zunächst langatmig, entwickelt der Film später eine kontrastreiche Dynamik (9.11., 16.30 Uhr).
Es gibt aber auch akuten Mangel an Stoffen. Erstmals beim Festival findet unter dem Titel „Zum Film überreden oder über den Film reden“ eine Diskussion über die Filmkritik im Fernsehen statt. Die abnehmende Tendenz an Filmdiskussionen im Fernsehen trägt zur Sorge bei, dass man kritische Filmbesprechungen bald nur noch im Netz finden kann. Wäre echter Stoff dann doch nur online zu bekommen?
35. Duisburger Filmwoche I 7.-13.11. I Filmforum am Dellplatz Duisburg I 0203 283 41 87
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