Schon fünf Minuten nach Einlass ist das Stratmanns proppenvoll. Geraune, Geraschel, Gemurmel. Auf der Bühne hängt ein wildes, unruhiges Plakat. Rücklichter vorbeifahrender Autos sind darauf zu sehen, rote und grüne Ampeln, gelb erleuchtete Bürogebäude. Darüber, dahinter, alles umarmend: die Nacht. Sie war Stuckrad-Barre lange Zeit lieber als alles andere. Die Nacht, sie ist neben Udo Lindenberg und Stuckrad-Barre selbst Protagonistin dieser 564 Seiten und an vielem nicht ganz unschuldig. Verführerisch spült sie Tag um Tag den Tag fort, macht gleich, vielleicht auch unbedeutend, lässt vergessen, stellt ruhig.
Auch hier, auf diesem Plakat. Alles verschwimmt zu einem einzigen Wusch, zu einem Rausch, so als könne man die Autos hören, die da vorbeiziehen, so als spüre man die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben. Vor dem Plakat ein Tisch, ein Stuhl, ein Wasserglas. Wie leer dieser Ort zum jetzigen Zeitpunkt ist, kann nur verstehen, wer Benjamin von Stuckrad-Barre wenig später dort lesen, tanzen, rauchen sieht.
Es wird dunkel, bunte Lichter gehen an und aus, der Kinderchor der Honky-Tonky-Show singt und wird abgewechselt von Nirvanas Smells-Like-Teen-Spirit. In einer Bewegung, von der nicht zu sagen ist, ob sie ungelenk oder unglaublich geschmeidig daherkommt, betritt Benjamin von Stuckrad-Barre die Bühne, verbiegt sich und beendet diese kleine, erste Show-Einlage mit einem das gesamte Gesicht überdeckenden Grinsen. Hallo hallo. Ganz beiläufig sitzt er da, erzählt von der kolossalen Lesung in Düsseldorf vor ein paar Tagen, von der Dortmunder Lesung, die das Pech hatte, auf diese kolossale Lesung zu folgen, und oh, ja, Münster, da war er auch. Öko-Stadt, ob es auch Straßen gebe neben den Fahrradwegen? Seine Sätze, die ersten Kapitel, die gekonnten Udo-Imitationen, all das plätschert so angenehm daher, dass man zwischenzeitlich vergisst, warum man hier ist. Dabei ist das eine gar nicht mal so uninteressante Frage.
Zum Einen ist da ein Buch, und zum Anderen ein Mensch. Ein Mensch, der sich beinahe aufgelöst hätte, verschwunden wäre. Und ein Buch, das davon erzählt. Panikherz ist laut Ferdinand von Schirach das Buch, das Stuckrad-Barre „schreiben musste“ – um zu überleben. Ein Seelen-Striptease, der sich in seiner drastischen Nüchternheit und medizinischen Schwere nicht zwischen Tagebucheintrag und Autopsie entscheiden kann. Tagebuch, weil Stuckrad-Barre ungeschönt und detailreich erzählt: Ohne Moral, ganz direkt, Berlin, Koks, Klinik, Hamburg, Zürich, Ecstasy, L.A., immer wieder Udo, so war das. Autopsie, weil es eben einem kleinen Wunder gleicht, dass er hier sitzt und liest, dass er überhaupt noch da ist.
Aber „unser Held“ – wie Stuckrad-Barre immer wieder sagt – hat überlebt. Er füllt derzeit ausverkaufte Hallen, ist wie ein „fucking Zirkuspferd“ auf Deutschland-Lesetour, erzählt jeden Abend Geschichten von bröckeligem Koks und Nasenbluten und macht psychische wie physische Abhängigkeit salonfähig. Und das ist doch irgendwie merkwürdig. Dass Stuckrad-Barre viel zu erzählen hat, steht außer Frage, er ist authentisch, wie er da sitzt, raucht und mit den Fingern nervös auf der Zigarettenschachtel trommelt. Wie er das Publikum auf die Bühne bittet, wer rauchen will, der soll sich doch bitte keinen Zwang antun, aus dramaturgischen Gründen wäre das hier auf der Bühne erlaubt, und ja!, da kommen auch schon die ersten auf die Bühne und setzen sich im Halbkreis um ihn, rauchen, quatschen, kleiner Schnack, was hast Du heute erlebt? Ah, Umzug, Wahnsinn, willst Du ‘ne Zigarette, ich hab nur Menthol-Zigaretten, aber bedien’ Dich.
Die große Frage ist doch nicht, warum Stuckrad-Barre hier ist, oder ob er schreiben kann. Die Frage ist: Warum sind wir hier? Ein paar wären sicher hier, um zu gucken, ob er noch lebe und wer weiß, ob er in 15 Jahren noch sein wird, scherzt Stuckrad-Barre. Aber das allein kann es nicht sein. Was bringt so viele Menschen – das Publikum ist gemischt, es gibt keinen Mehrwert – dazu, sich den Aufstieg und vor allem den Fall eines anderen anzuschauen? Als Abendgestaltung. Als, ja, man muss es so sagen, Unterhaltung. Ist das nicht Seelen-Voyeurismus? Der Abend wechselt zwischen Heiterkeit und dem unanständigen Gefühl, etwas zu erfahren, was doch sehr persönlich ist. In den Momenten, in denen Stuckrad-Barre den harten Tobak vorträgt, ist es still, fast ein bisschen unangenehm – natürlich nur für alle anderen. Er fände das Buch sehr gelungen, sagt er zufrieden, und man lacht mit ihm.
Am Ende bleibt Benjamin von Stuckrad-Barre ein Rätsel, eine Gestalt, von der man doch nichts weiß. Und vielleicht rühren sie daher, die Faszination, die Begeisterung und die Pilgerschaften zu seinen Lesungen. Da hat jemand ein Buch geschrieben, das ihn in all seiner Nacktheit zeigt, ein Buch, das den schrillsten Boulevard-Journalismus provinziell erscheinen lässt, ein Buch, das aus uns allen, egal wie wild, verwegen, anti- oder aufmüpfig wir sind, ehrenwerte Bürger macht – und doch wir wissen nichts von ihm.
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