Ficken, saufen, kotzen. Alles schon mal gehabt. Seltener in einem ehemaligen Gotteshaus. Philipp Preuss inszeniert Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ merkwürdigerweise oder folgerichtig in der ehemaligen Friedhofskapelle. Leicht ist das nicht, schon der Aufstieg auf die hölzerne Balustrade wird für das Publikum zum Erlebnis: Hier oben sind wir, da unten kämpft das Tier, der Teufel, das Böse hinter den aalglatten Fassaden amerikanischer College-Professoren. Denn die beiden Paare, die da mitten in der Nacht aufeinanderprallen, sind sich so ganz unähnlich nicht, wenn auch Martha und George im Zerfleischen ein paar Jahrzehnte Vorsprung haben. Dementsprechend ist ihr Haus bereits mit Flaschen übersäht.
Und nun beginnt das bekannte Ränkespiel um Sex, Macht und Herrschaft über die Konversation. Die Zuschauer sehen alles von oben, meist mit einem hölzernen Balken vor dem Blick. Auch hier ist es gut, wenn man Riese oder Zwerg ist und über abgehärtetes Sitzfleisch verfügt. Das haben schließlich auch die zwei Paare da unten, die sich erst näher und dann mächtig ins Gehege kommen. Schon ihre Kostümball-Outfits lassen nichts Gutes ahnen. George (Frank Wickermann) als Cäsar, seine Frau (Marieke Kregel) als Kurtisane. Der Besuch, ein neuer Biologie-Dozent (Patrick Dollas) erscheint passend als Gorilla, seine Gattin Putzi (Katja Stockhausen) als Nonne, ihr Vater war schließlich Priester und, wie man später erfährt, auch nicht ohne Fehl und Tadel. Da alle schon reichlich Hochprozentiges intus haben, fällt das Entblößen der kleinen Geheimnisse, die eigentlich große bleiben sollten, leicht. Im Gegensatz zur Originalfassung scheint der imaginäre Sohn von Martha und George, um den sich immer das Finale dreht, bei Philipp Preuss tatsächlich zu existieren.
Aber die heimliche Heldin des Abends ist die Figur Putzi, die sich erst vor Langeweile sturzbesäuft und dann den Rest des Abends am Fenster kotzen muss. Köstlich, wie Katja Stockhausen diese sonst eher nebensächliche Figur ins grelle Licht der Kapelle holt, dabei auch schon mal aus dem Fenster stürzt, und doch immer wieder für die Alkoholreste auf dem Tisch bereitsteht. Eine Inszenierung, die gar nicht erst versucht, sich mit anderen Versionen zu messen.
„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ I 1.6.19.30 Uhr I Kapelle Moers I 02841 883 41 10
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