Der Norweger Tore Vagn Lid gastiert bei den Mülheimer „Fatzertagen“, im Gepäck seine Inszenierung, die erst im Mai beim Bergen Festival in Norwegen ihre Premiere gefeiert hat.„Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“, so der vollständige Name des Stückes, entstammt der Feder Bertolt Brechts, des Urgesteins politischen Theaters. Es blieb Fragment, das zwischen 1926 und ‘30 entstand, mehrere hundert Seiten umfasst, aber nie vollendet wurde. Ein ambitioniertes Projekt. Doch Tore Vagn Lid beherrscht sein Handwerk, das er unverkennbar in der Theatermacherschmiede Gießen erlernt hat. Die Klaviatur derzeitiger Inszenierungstrends spielt er mühelos: Videoleinwände, das Spiel mit der Gleichzeitigkeit, die Frage nach dem Raum, selbstreflexive Bezüge und die halbnackten Schauspielerinnen, alles ist da. Die aufwändige Livemusik, die Solistinnen im Chor geben der Inszenierung aber ihre eigene Note, erschaffen fast schon naiv schöne Momente, in einer grausamen Welt, die sich da vor einem ausbreitet.
Das Geschehen entfaltet sich den ZuschauerInnen in der Retrospektive: Vier Männer liegen tot in einem Raum. Was ist passiert? Während des 1. Weltkriegs, genauer im Hungerjahr 1917, desertieren vier Soldaten,schlagen sich von Verdun in die Heimat, nach Mülheim an der Ruhr durch, wo sie bei der Frau eines der Männer Unterschlupf finden. Wo Solidarität gefragt, ja erwartet wäre, verweigert sie Fatzer, mehr noch, stellt sie in Frage, sowie er Herrschaft und Gefolgschaft grundsätzlich in Frage und das Individuum über die Gemeinschaft stellt. Am Ende sind sie alle tot, doch was hat sie letztlich umgebracht? – Diese Frage bildet den Kern des Abends. Der Hunger, der hier, und das wird schnell klar, ein existentieller ist? Das hoffnungslose Warten auf die ausbleibende Revolution? Das Menschsein? Lid lässt das politische Theater wiederauferstehen, bricht aber nicht mit dem linken Gedankengut des Brecht-Stückes, sondern überträgt es in das Hier und Jetzt. Leider bricht er ebenso wenig mit dem Brechtschen Chauvinisms. Der Abend wird auf Norwegisch bestritten, und leider geht dabei einiges der Inszenierung verloren, weil man häufig damit beschäftigt ist, die deutsche Übersetzung von den Leinwänden abzulesen. Was übrig bleibt, reicht aber allemal zu einem gelungenen Theaterabend.
„Fatzertage“ I keine weit. Termine I Ringlokschuppen Mülheim I 0208 99 31 60
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