Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Elias Canetti an diesen Arbeiteraufstand in Wien. Es war das Jahr 1927. Und der Demonstrationszug verschluckte den damals erst 22-jährigen Philosophen förmlich, wie er schreibt: „Es sind 53 Jahre her, und die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“
Das Phänomen Masse spukt seitdem durch die Geschichte. Bis in die Gegenwart. Ist sie regressiv oder emanzipativ? Fördert sie Pathos oder Phobos? Um diese Unheimlichkeit und Macht der Vielen dreht sich auch die Tanzperformance „Colossus“, die bei den diesjährigen Ruhrfestspielen in Recklinghausen ihre Deutschlandpremiere feiert.
Die mehrfach preisgekrönte australische Choreografin, Tänzerin und Leiterin einer eigenen Company Stephanie Lake dirigiert dafür Folkwang-Studierende in diesem Reigen der Vielen. Konform in schwarz gekleidet, schreiten und wogen die 50 Bühnenakteure synchron durchchoreographiert über die Bühne. Alles im Takt, alles im Einklang. Bis nicht mehr erkennbar ist, wo der eine Körper aufhört und der andere endet.
Diese Schwarmästhetik ist den Bewegungsmustern aus der Natur entlehnt. Anders als dieser animalische Herdentrieb befragt „Colossus“ jedoch ebenso die menschliche Dimension der Masse. So brechen während der Inszenierung Tänzer solistisch aus der choreographierten Formation aus, demonstrieren damit ersten jenen Moment der Individualität konkret und körperlich: als Aus-der Reihe-Tanzen im Rhythmus des Gleichklangs.
Stephanie Lakes „Colossus“ eröffnet damit nicht nur eine Bewegungsstudie, sondern gerät gleichzeitig zur Reflexion über die menschliche Gemeinschaft und die Frage, wie sich Einzelne überhaupt durch die Menge winden und wie sich das Heterogene zum Kollektiv verhält, ohne sich ins Homogene zu verkehren. Lake geht es dabei auch um eine Erforschung von Intimität und Zärtlichkeit im Verhältnis zur Masse. Es klingt nach einem choreographischen Traktat über massenpsychologische sowie philosophische Fragen. Schließlich beschäftigte dieses Motiv bereits über 50 Jahre Elias Canetti.
Colossus | R: Stephanie Lake | 20., 21., 22. Mai | Ruhrfestspiele Recklinghausen | 02361 921 80
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Plötzlich und heftig
Das Land NRW kappt Säulen der Tanzförderung – Tanz in NRW 04/25
Baum der Heilung
„Umuko“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 03/25
Reagieren auf den Klimawandel
Tanz-Projekt im Essener Museum Folkwang
Tanz der Generationen
„Kaleidoskop des Lebens“ von Choreografin Suheyla Ferwer – Tanz in NRW 03/25
Überraschungen vorprogrammiert
Das Urbäng Festival 2025 in Köln – Tanz in NRW 02/25
Wenn KI choreografiert
„Human in the loop“ am Düsseldorfer Tanzhaus NRW – Tanz an der Ruhr 01/25
Tanzen, auch mit Prothese
Inklusive Tanzausbildung von Gerda König und Gitta Roser – Tanz in NRW 01/25
Die Erfolgsgarantin
Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele für Oper und Schauspiel – Tanz in NRW 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
Gegen den ewigen Zweifel
Die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Prolog 04/25
„Kunst hat keine Farbe, Kunst ist Kunst“
Isabelle und Fabrice Tenembot vom Verein Afrikultur über das 4. Mboa-Festival in Dortmund – Interview 04/25
„Der Text hat viel mit heute zu tun“
Regisseurin Felicitas Brucker über „Trommeln in der Nacht“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 04/25
Das gefährliche Leben von Kindern
„Blindekuh mit dem Tod“ am Jungen Schauspiel in Düsseldorf – Prolog 03/25
Gewinnen um jeden Preis?
„Alle spielen“ im Studio des Dortmunder Theaters – Prolog 03/25
Kabarett, Cochem-Style
„Zu viele Emotionen“ von Anna Piechotta in Bottrop – Bühne 03/25
Tanzen bis zum Umfallen
46. Duisburger Akzente – Festival 03/25
„Die Kraft des Buchs besteht in der Aufarbeitung“
Bettina Engelhardt inszeniert Bettina Flitners Roman „Meine Schwester“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 03/25
„Ich liebe die Deutungsoffenheit“
Regisseur Roland Schwab über „Parsifal“ am Essener Aalto-Theater – Interview 03/25
Was wirklich in den Sternen steht
„Liv Strömquists Astrologie“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Prolog 02/25
Tanzende Seelen
„Dips“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 02/25
„Eine Frau, die förmlich im Leid implodiert“
Regisseurin Elisabeth Stöppler über „Lady Macbeth von Mzensk“ in Düsseldorf – Interview 02/25