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So fromm kommen wir nie wieder zusammen. Die Jungfrau Maria lauert schon
Foto: Andreas Kähring

Das additive Kompositionsprinzip

01. Oktober 2010

Thomaspeter Goergen inszeniert das "Liebeskonzil", ein antiklerikaler Schnitt aus zwei humorvollen Stücken - Theater Ruhr 10/10

Das Leben ist eine Kirche, der Glaube ein Putzlappen. Mit diesem Reinigungsmittel hat der Klerus manch heimlichen Spermaflecken so lange entfernt, bis das rohe Holz unter dem heiligen Blattgold hervorlugte. Folgerichtig steht auf der Bühne im Mülheimer Theater an der Ruhr hinter dem pseudoromanischen Halbrundbogen ein roher Hackblock aus Holz als Zimmeraltar. Er ist Inventar eines christlichen Pfarrhaushaltes, in dem die Sitten streng sind und das eigene Laster milde geduldet wird. Regisseur Thomaspeter Goergen hat mit seinem Dramaturgen Helmut Schäfer gleich zwei „böse“ Stücke zu einem verschmolzen. Oskar Panizzas Theatergroteske „Das Liebeskonzil“ (1894) spielt im Himmel, wo der senile Gott den Teufel konsultiert, um die marode Menschheit endlich wieder auf den rechten Pfad zu zwingen. Mitstreiter sind ein debiler Jesus und die abgezockte Jungfrau Maria. Dahinein schnitten die Mülheimer Theatermacher Szenen aus Heinrich Lautensacks Schwank „Die Pfarrhauskomödie“ (1911), und das so geschickt, dass ihr Ergebnis beim Zuschauer auch als eigenständige Fusion durchgehen würde.

Die unheilige Theatermesse mit seriöser Tisch-Ikonografie beginnt im Pfarrhaus, wo die Haushälterin Ambrosia (Rosmarie Brücher) gerade schweren Herzens für einige Monate zur „schwerkranken Mutter“ fahren muss, allerdings zum Entbinden. Vater des Sprösslings ist Hochwürden (Rupert J. Seidl). Noch schnell ein paar Schnitzel gehackt, ein Ave Maria geheult, dann ist die Bühne frei für Aushilfsköchin Irma (Simone Thoma), die die Situation längst durchschaut hat und sich Vincenz, den noch gläubigen Kooperator des Pfarrers (Steffen Reuber) schnappt. Zwischendurch tritt ein Schulbub auf, der etwas später nackt auf dem Hackblock liegt und gewaschen wird. Er taucht als Cherub (immer noch nackt) im Himmel auf. Hier tobt die Dekadenz, Gott ist blind und Päderast, der sich vom neuen Engelchen schon mal gern den heiligen Stab massieren lässt. Irgendwie ist ihm im Laufe der Jahrtausende die Autorität flöten gegangen, die scheint jetzt die Jungfrau Maria zu besitzen, auch wenn sie bei jedem Gedanken ans Sexuelle würgen muss. Von heiliger Demut oder Gnade ist nichts mehr übrig, der Cherub wird nebenbei mal kurz entmannt, dem tuntigen Erzengel fehlt beim Gesang schließlich eine Knabenstimme.

All das inszeniert Thomaspeter Goergen nicht als derbe Komödie oder gaglastige Comedy, sehr ruhig und unheimlich unwitzig fließt die Handlung dahin, die Choreografie ist unaufgeregt, die Schauspieler sind durchweg präzise Schöpfer ihrer Charaktere. Das seltene Lachen im Publikum wirkt da kaum befreiend, ein wunderbarer Schachzug angesichts der wohl ewigen Zeitlosigkeit dieses Wahnsinns. Gerade hat die „heilige Familie“ die neuesten Nachrichten von der Erde erhalten, von Gräueltaten selbst in den Kirchen (der Hof des Borgiapapstes Alexander VI. wurde gestrichen), da beschließen sie drakonische Strafen, schließlich „wird das Gesindel nie besser“. Der Teufel (Marco Leipnitz) muss es richten, und da kommt er auch schon reingewuselt, im liturgischen schwarzen Gewand mit Aktenkoffer, schließlich haben wir ja nicht mehr das Mittelalter. Beim göttlichen Meeting schlägt er als Strafe eine Krankheit vor, die beim Geschlechtsakt übertragen wird und zum siechenden Untergang führt. „Aber die Seele muss gerettet werden können“. Das schafft Gott noch zu verhandeln, dann ist die christliche Aufsichtsratssitzung beendet, die mit ihrem Ergebnis auch gezeigt hat, dass die Götter den Menschen für ihre Existenz brauchen. Vielleicht eher als umgekehrt.

Der nächste Filmschnitt führt wieder ins Pfarrhaus, wo sich die beiden Paare gerade mit ihrer Kirche arrangieren: vertuschen, leugnen, weitermachen. Ihr Glaube scheint ihren Lebensmut eher zu lähmen. Aber ihre Kirche hat keine Zukunft mehr. Was sie nicht wissen: Der Teufel hat ausgerechnet einem Sängerknaben das Virus implantiert. Er wird die Seuche, man einigte sich auf den Namen Syphilis, wohl ziemlich schnell verbreiten. Das Publikum dankte mit anhaltendem Applaus, insbesondere Fabio Menéndez als immer nackter Cherub erntete auch spitze weibliche Begeisterungskreischer. Einigen scheint das Liebeskonzil auch nahegegangen zu sein. „So etwas wollte ich heute Abend nicht sehen“, sagte eine ältere Dame beim Hinausgehen. Ich habe den Satz irgendwie nicht verstanden.

PETER ORTMANN

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