Papierschnitzel gelb, silber und grün rieseln vier Stunden lang zu Boden. Im trockenen Regen stehen Peter Handke als Ich-Erzähler und seine verstorbenen Verwandten, die sich traumhaft am Rande des Kärntner Jaunfeld an einer Bank treffen, um die Geschichte der Familie Revue passieren zu lassen. Es ist die Eröffnung des „Stücke“-Festivals, der Mülheimer Theatertage, der Auseinandersetzung um den Mülheimer Dramatikerpreis, der die besten Theatertexte des Jahres im Wettbewerb vereint. Als erster tritt Peter Handke mit „Immer noch Sturm“ in den Ring. Sein jüngstes Gedicht beschreibt die Vorgänge vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg aus Sicht der unterdrückten Kärntner Slowenen.
Handkeselbst ist der uneheliche Sohn einer Kärntner Slowenin und eines Wehrmachtssoldaten. Es ist auch die Geschichte des einzigen Partisanenkampfes innerhalb des sogenannten Dritten Reiches. Ein Apfelbaum-Epos in Prosa, in Dialogen und Regieanweisungen, in Mülheim zu sehen in der Uraufführungs-Inszenierung des Hamburger Thalia-Theaters, Regie: Dimiter Gottscheff, und das heißt, die Schauspieler müssen große Flächen auf der weiten Bühne durchmessen. Jens Harzer spielt den altgewordenen Handke, dessen tote Vorfahren alle jünger sind als er. Zeit und ihr Umgang damit sind Eckpfeiler in der Abrechnung des Autors mit der Geschichte. Wie die Geschichte selbst, die oft von den Siegern geschrieben wird, die am grünen Tisch Ländergrenzen verschieben und Volksgruppen, von einem Land zum anderen, egal welche Träume dabei zerplatzen.
Nach dem „glücklichen“ Sommer 1936, auf der Suche nach Verortung in Sprache und Brauchtum, die Lieder waren traurig, aber ohne Tragik, hängt der kleine Peter an Onkeln und den Apfelbäumen. Der Alte auf der Bank fragt sich, wann das Jetzt wohl sein könnte. Immer wieder schart er die Vorfahren um die Bank am Rande des Jaunfeldes. Jugoslawien ist längst ausgeträumt, auch die Vision der Kärntner-Slowenen lebt nur noch in kleinen Zirkeln. Dabei war es ihr Widerstand, dem Österreich am Ende des Krieges die Unabhängigkeit verdankte. 1941 schlossen sich im Süden Österreichs slowenische Volksgruppen zu den sogenannten bewaffneten grünen Kadern zusammen. Einheimische, aber auch zwangsrekrutierte Soldaten flohen in die Wälder, um dort dem deutschen Militär Widerstand zu leisten. Zurück blieben die Alten, die um ihre Kinder bangten, von denen nicht alle überleben werden. Die Onkel nicht, die Tante, ab und zu mischt der Autor Biografisches mit Fiktion, lässt die Familie aufeinanderprallen, aber nie spaltet er sich dabei ab. Das Handke-Ich (in Hamburg: Jens Harzer) spricht, näselt, gestikuliert, verliert als alter Mann mit Stock auch schon mal den Boden unter den Füßen. Es scheint, als würde das Pathos den Körper auslaugen, dann wieder Tatsachenbericht und Apfelbaum-Verklärung. Ausdrücke im regionalen Dialekt oder ganze Sätze auf Slowenisch mischen sich mit den deutschen Texten, die Mischung macht es, auch in der Familie des Handke, ohne Vater (ein deutscher Soldat auf Durchreise), eine Melange, von der Handke augenscheinlich nicht viel hält.
Sinnfällig dann der familiäre Apfelgottesdienst: Gregor, sein Lieblingsonkel, hält eine Messe in slowenischer Sprache. Er liest aus dem „heiligen Buch der Familie“, seinem „weithin berühmten Werkbuch zum Obstbau“, auch über die heimischen Apfelsorten. Die Ahnen verlassen den Ort der Sehnsucht. „Du kannst nicht alles bestimmen, Herr Sohn“, sagt seine Mutter noch.
Handke bleibt zurück, sein letzter Monolog ist auch die Hinterfragung seines eigenen Tuns. Der alte Handke kämpft mit dem jungen, mit der Geschichte, in der die Ahnen mir nichts, dir nichts auseinandergewürfelt wurden. Was bleibt, sind die Handzeichen, mit denen sie einander durch die Zeiten noch zuwinken. Ein universales Stück, des Mülheimer Preises würdig, ist zu Ende.
Sehen sollte man es in der Region auch in der Version von Roberto Ciulli am Mülheimer Theater an der Ruhr.
„Stücke“ (Mülheimer Theatertage) I bis 9.6. I Mülheim I 0208 47 20 20
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