Die „Weißen Nächte“ des Theaters an der Ruhr in Mülheim sind „ein Unikum“ (Roberto Ciulli). Fünf Tage gesponserte Kultur für alle, bei freiem Eintritt in den Raffelbergpark. Entstanden ist das kleine Festival, das keins sein will, wegen übergroßer Hitze im Theatersaal vor zehn Jahren. Daraus entstand die Idee „Wir schenken dem Publikum am Ende der Spielzeit drei Vorstellungen“. Inzwischen gibt es gleich sechs und ein konzertantes Programm dazu, immer vor den Theaterstücken, auch um die allzu helle Dämmerung zu überbrücken. Darunter, wie sollte es im Theater an der Ruhr auch anders sein, eine Band mit iranischen, indischen, französischen und deutschen Wurzeln. „Cyminology“ (Do 11.7.) präsentieren persische Lyrik mit den Stilmitteln des Jazz. Als Theaterstück sollte man sich das „Tanzvergnügen“ (14.7.) von Ödön von Horváth nicht entgehen lassen, wo Roberto Ciulli aus dessen vier großen Volksstücken („Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Glaube Liebe Hoffnung“, „Kasimir und Karoline“) Szenen und Figuren zu neuen Situationen verbindet und natürlich seinen magischen Abend „Kaos“ (13.7.) nach Motiven von Luigi Pirandello. trailer sprach mit Theaterchef Roberto Ciulli über sein Theater.
trailer: Herr Ciulli, warum braucht zeitgenössisches Theater immer häufiger das Event?
Roberto Ciulli: Das Theater an der Ruhr gibt es nun seit über 30 Jahren, und vor 30 Jahren war die Konkurrenz von Veranstaltungen, von kulturellen Angeboten hier in der Gegend nicht so groß. Das hat sich alles multipliziert. Ich glaube auch, dass sich der differenzierte Blick auf die verschiedenen Möglichkeiten verloren hat. Das Theater hat es heute auch ziemlich schwer sich durchzusetzen. Das ist die eine Sache, und die andere ist, dass das Interesse am Zeitgenössischen, auch am politisch Zeitgenössischen in einer kulturellen Atmosphäre in den letzten Jahren verloren hat.
Festivals nehmen auch immer mehr zu ...
Genau. Die Festivals sind eigentlich eine Folge der Ökonomisierung. Da sind wir in unserem Theater ein bisschen altmodisch geblieben. Mit unserem internationalen „Festival“ machen wir genau kein Festival, wir benennen das bei den einzelnen Aufführungen auch nicht. Wir nennen es „Theaterlandschaft“. Wir versuchen hier unseren Blick auf die Menschen, die in ihrem eigenen Land fremd sind, zu schärfen, also den genau umgekehrten Weg zu gehen. Das Theater an der Ruhr hat eine Geschichte, was die internationale Zusammenarbeit angeht. Es gibt, glaube ich, kaum ein Theater, das so viele intensive Kontakte in so viele Länder gehabt hat. Auch im Bereich des Austauschs, das heißt, wir sind auch viel gereist. Wir bleiben auf diesem Weg. Wir fokussieren uns dabei immer auf ein Land oder ein Gebiet, zum Beispiel war für die internationale Zusammenarbeit zum einen Arabien für uns interessant. Uns interessiert die Brücke zwischen Theater, kulturellem Leben und dem, was politisch auf der Straße stattfindet, die revolutionären Bewegungen. Zum anderen gibt es schon seit den 1980er Jahren einen starken Fokus auf die Türkei, weil wir glauben, dass sie bei uns oder in ganz NRW ein Thema ist. Wir waren die ersten, die einen solchen Austausch mit der Türkei gepflegt haben – hier interessiert uns die Frage nach dem Verhältnis von Türkei, Deutschland, Europa. Wir hatten uns vorgenommen, wir möchten gerne kontinuierlich türkische Werke, türkische Sprache jeden Monat – in diesem Punkt unterscheiden wir uns absolut von der Festivalmentalität – ein anderes Theater aus der Türkei zu Gast haben bzw. ein Stück in türkischer Sprache zu zeigen. Das war für mich schon vor 30 Jahren klar, dass das an den deutschen Stadttheatern Normalität werden sollte.
Kann man sich das leisten?
Das Schwierige ist die ökonomische Situation. Wir haben durch unsere langjährige Arbeit aber das Vertrauen des Kulturministeriums NRW gewonnen, das uns in dieser Sache unterstützt, das Goethe Institut sowieso. Wir stehen also schon gut da.
Kommt der Internationalismus an den anderen Stadttheatern zu kurz?
Ja. Ich glaube, dass das Problem auch ist, dass man dafür eine Leidenschaft, eine Liebe haben muss. Man muss viel reisen. Und wir wissen, dass die besten Dinge im Theater dort passieren, wo kein Mensch hinfährt. Das ist leider die ungeschriebene Geschichte des Theaters. Man muss natürlich diese Kraft aufbringen. Das ist nicht damit getan, dass man den Computer anmacht, recherchiert und schaut, was dann alle sehen. Und dann wird 30mal dieselbe Inszenierung eingeladen. Die richtige internationale Arbeit ist immer auch eine politische Entscheidung. Entstanden ist sie durch ein Gefühl der Fremdheit mit der Sprache. Wir haben jahrelang deutsche Stücke in der deutschen Sprache gemacht, aber wir hatten das Gefühl, die Leute mögen uns nicht – probieren wir es draußen. Dann sind wir nach Jugoslawien gegangen und tatsächlich, die Leute waren begeistert. Dann kam die Idee, nach der Fremde, der Fremdheit zu suchen, dorthin zu gehen oder sie ins eigene Land herzuholen.
Eigentlich bräuchte man dieses Netzwerk ja nur auf die Stadttheater legen …
Genau. Aber in den Theatern müssen die Leute sein, die das mit Leidenschaft tun. Die Menschen sind ja nicht gleich, das heißt, nicht alle können dasselbe machen. Das braucht schon einen besonderen Blick oder eine besondere Liebe zu dieser Art von Blick.
Warum aber „Weiße Nächte“? So hoch im Norden liegt Mülheim doch gar nicht.
Das ist richtig, aber für einen Italiener … Selbst nach 30 Jahren ist es nicht das Essen, es ist nicht das Klima, es ist nicht das Licht. Dieses Licht, das die ganze Zeit zwischen Oktober und April und jetzt auch noch bis Juni leuchtet, das macht mich verrückt. Weil ich ein anderes Licht gewohnt bin und einen anderen Himmel brauche. In der deutschen Sprache bin ich so heimisch geworden, auch wenn ich immer noch meinen Akzent habe. Aber ich denke tatsächlich in der deutschen Sprache. Aber in diesem bestimmten Licht fühle ich mich in Deutschland immer fremd.
„Weiße Nächte“ I draußen und umsonst I 10.-14.7. I Theater an der Ruhr, Mülheim I 0208 599 01 88
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