Ein Mashup aus Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ und Fusion erklingt, als Sebastian23 an Krücken auf die Bühne humpelt. Diagnose des Arztes: Meniskus. Seiner Eloquenz scheint diese Verletzung keinen Abbruch getan zu haben, wenn auch die erste Witze über die mangelnde Erotik der Bühnenausstattung trotz Bärenfelles nur verhaltenes Lachen aus dem Hagener Publikum herauszukitzeln vermögen. Westfalen halt. Sitzen da mit verschränkten Armen und denken sich: „Soll der da vorne erst mal machen. Einfach so lach ich nicht.“ Doch da der Moderator aus Bochum diese Grundeinstellung seines Publikums dennoch gut gelaunt ausspricht und akzeptiert, lösen sich in dem Kulturzentrum Pelmke doch langsam die Lachmuskeln und der Schiedsrichter James Bond aus Wattenscheid wird warmherzig begrüßt. Ebenso wie die Slammer an diesem Wettbewerbsabend: Marc Oliver Schuster aus Detmold, Beatrice aus Bochum und Andreas Weber aus Münster auf der Seite der Lebenden. Edith Stein, Hermann Ferdinand Freiligrath und Annette von Droste-Hülshoff ganz stilecht auftretend auf der Seite der toten Westfalen.
Marc Oliver lässt sich über seine Katze und den neuen Papst aus, lästert über das westfälische „als wie“ und wirft selbst damit um sich. Der Herr Freiligrath entführte bei dramatischem Dämmerlicht in das schlesische Gebirge und rief verzweifelt nach Rübezahl. Beatrice stand nach ein paar Problemen mit der Beleuchtung im Hier und Jetzt des Studentenlebens und ging im Laufe ihres Beitrages immer selbstkritischer gegen sich vor, was auch das Publikum, die anfangs noch Studentenklischees befürchteten, positiv überraschte und ihr dafür den angemessenen Tribut zollte. Was Edith Stein so vor sich hinphilosophierte, konnten die wenigsten nachvollziehen. So sind sie wohl die Philosophen, immer ein wenig entfremdet vom einfachen Volk. Doch die energische Darbietung der heiligen Dame überzeugte. Form überbot Inhalt. Zumindest an diesem Abend in der Pelmke. Einen Angriff auf das Zwerchfell startete der Münsteraner Andreas. Mit seiner Mutter fuhr er verbal auf eine der großen Familienfeiern ins münsterländische Nirgendwo. Hörte sich die ewig gleichen Sprüche über seine Haare an, hörte sich die ewig gleichen Sprüche über Terassenbauten, Alkohol etc. seiner Onkels, Tanten und Verwandten an. Selbst der Kindertisch geriet aufgrund einiger nicht vorgesehener alkoholischer Tröpfchen außer Rand und Band und präsentierten sich teils schamlos. Verwandtengeburtstage kamen gut an in der Hagener Pelmke, jeder der Zuschauer kannte die ein oder andere Begebenheit vom eigenen Kaffee und Kuchen. Daher war es nicht verwunderlich, dass der Saal seine westfälische Zurückhaltung fallen ließ und tobte. Der alte 20 Markschein Annette von Droste-Hülshoff konnte auf Seiten der Toten die meisten Punkte für sich verbuchen. Sie führte den mittlerweile nun wohl auch verstorbenen Knaben noch einmal durchs schaurige Moor mit all seinen gruseligen Erscheinungen.
Um den alleinigen Sieger zu küren, mussten die letztgenannten beiden Westfalen im Stechen gegeneinander antreten. Andreas Weber legte mit seiner Anekdote über das Begräbnis seiner Oma noch eine Schüppe drauf auf münsterländische Verhaltenskodizes. Alkohol spielte natürlich auch dabei eine wichtige Rolle und zuletzt rannten er und seine Mutter um den letzten Rest vom Schützenfest: das gute Porzellan seiner Oma. Schnell, bevor es die olle Schnepfe von Cousine es bekommt! Annettes Judenbuche konnte gegen diese bildreich-makabren Schilderungen nicht ankommen, bekam aber für ihren wohlerzogenen Knicks noch einen Herzensapplaus.
Was bleibt vom Abend? Der Westfale an sich ist erst einmal zurückhaltend, Verwandtschaft und Alkohol entlocken Sympathiebekundungen, aber ein schüchterner Knicks gewinnt die Herzen, wenn schon nicht den Poetry-Slam. So oder so ähnlich.
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