Wer immer noch nicht begriffen hat, was alternative Fakten eigentlich sind und warum sie so lustig scheinen, der sollte sich im Theater Oberhausen sachkundig machen, denn dieses Wissen ist nicht nur wichtig in der Beurteilung internationaler Verstrickungen um Knopfgießer jedweder Couleur, nein, in einer postfaktischen Welt ist es auch wichtig zu wissen, wer versucht, die sowieso nur gefakte Welt noch ein wenig falscher zu machen. Und diese, nennen wir sie mal Politiker, wohnen nebenan, nun, nicht gerade als Nachbarn, aber doch irgendwie zu nahe, um sie einfach ignorieren zu können. Schon Kommunalpolitik ist konsequente Selbstbereicherung auf ganz hohem Niveau und da sind alternative Fakten gang und gäbe, sie heißen nur nicht so.
Das ist in Florian Fiedlers Inszenierung von Ibsens „Volksfeind“ nicht anders. Auch hier muss mit aller gegebenen Freizügigkeit Schaden vom Kurbadeort abgewendet werden. Schon vor dem Einlass stolzieren die Badegäste durch die wartenden Theaterbesucher – die Statisterie hatte sicher alle Hände voll zu tun. Der eine oder andere lässt auch schon mal lässig den Mantel offen, diese grandiose (knappe) Männer-Bademode aus den frühen 1970er hatte ich lange nicht mehr gesehen. Wollte ich auch nicht, aber dann ging es auch schon hinein in den Saal mit Catwalk in die Zuschauerreihen. Hier wird die Zukunft der aufstrebenden Gemeinde also verhandelt, hier kämpft Volkes Wille gegen die Wissenschaft, hier soll nicht nur einfach Rendite erwirtschaftet werden, hier wird die Zukunft diskutiert. Sanus Per Aquam – drauf gegerbt statt geschissen. Das Wasser in der Wiege des Ruhrgebiets ist lecker. Punkt. Erst mal ein Tomatensüppchen? Nein danke, man kennt das Stück und wer weiß schon, mit was die Melange gekocht ist. Gleich wird Ibsen weggefrühstückt. Dr. Thomas Stockmann mit Frau Karin und Sohn Pedro (im Original Tochter Petra) im schicken Designer-Bungalow ist auch schon ganz aufgeregt, der Badearzt hat viel vor und endlich einen geregelten Job. Future is wide open, doch für die blauen Himmel wird es nicht ganz reichen, denn wie alle wissen – der heilsame Schluck aus der Quelle ist verseucht. Der Brief aus dem Labor ist da, das Drama kann beginnen.
Fiedler lässt jetzt die Puppen tanzen. Die Aufrechten scharen sich hinter den Badearzt. Die Presse, der Verein der Hausbesitzer, Fiedler tauscht auch hier Ibsens Geschlechterverteilung, Hovstadt und Billing sind bei ihm (zu) blutjunge Redakteurinnen (Banafshe Hourmazdi und Emilia Reichenbach), Aslaksen (Lise Wolle) die zur ewigen Mäßigung neigende „zähe Gräte“, offensichtlich erfolgreich, aber dennoch vorsätzlich hintertrieben. In der Struktur belassen, tanzen jedoch auch die weiblichen Figuren den Reigen der Abhängigkeit. Peter Stockmann, älterer Bruder des Badearztes und Aufsichtsratsvorsitzender der Bad-AG hat sie alle ganz schnell im Griff. Jürgen Sarkiss beherrscht großartig diese Schweine-Logik im Schweinesystem – klar, niemand kommt gegen ihn an. Die Argumente kann man nachvollziehen, aber: Clemens Dönicke kann dem nichts entgegensetzen, vielleicht hätte hier auch eine weibliche Besetzung geholfen, die Bundeskanzlerin macht das ja vor. Ungläubig ist die auch nie und auch eine Thomasina wäre technisch gesehen ein aramäischer Zwilling, dem die Zukunft der Stadt am Herzen läge, die aber vielleicht etwas mehr Demagogie-Erfahrung hätte. Ganz großes Kino dagegen ist der Kontrast und Bruch zwischen dem stillen Protest von Dönicke hinterm Catwalk, Ibsens Abrechnung mit der Mehrheit, die nie das Recht auf ihrer Seite hat, Wissende oder Narren – die Welt besteht eben in der Mehrheit nicht aus Narren, nur aus Dumpfbacken, die es eigentlich nicht anders verdient haben. Auch Edwin Abbotts Flächenland-Parabel ist für diese Rechnung nicht notwendig, doch Dönicke schafft betretene Stille ins Publikum. Nein, noch ist kein Ende. Jetzt wird gerockt – die Bühne zum Schlachtfeld, endlich kann das Publikum wieder mitgehen, Klatschmarsch. Ja, Florian Fiedler, so einfach ist das. Robbie Williams‘ „So come on, let me entertain you“, mehr braucht es heute nicht mehr zur Zerstreuung böser Gedanken. Gegen die Löwen wird woanders gekämpft. Hier bleibt nur die Schafsherde im Wald. Bei Ibsen war es der Mann, der ganz alleine steht, der am Ende der stärkste Mann der Welt wurde. Ich bin mir angesichts der blinkenden Smartphones da nicht so sicher.
„Ein Volksfeind“ | R: Florian Fiedler | 10., 16.2. 19.30 Uhr, 25.2. 18 Uhr | Theater Oberhausen | www.theater-oberhausen.de
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