Sie liegen am Boden, ihre Gesichter sind verdeckt mit weißen Masken. Zu harten Bässen von deutscher Elektromusik erwachen vier angsteinflößende Gestalten, die sich roboterartig zur Musik bewegen. Einer von ihnen wird überwältigt und liegt wieder am Boden, während die anderen mit stilisierten Gesten auf ihn eintreten.
„Verloren“ ist eine Collage zum Thema Amoklauf. Die vier Jungschauspieler Ariane Kareev, Thekla Fliesberg, Burak Göktepe und Max Braun experimentieren mit verschiedenen Identitäten: Verstörte Eltern sind fassungslos über die Tat ihres Sohnes, ein Lehrer resümiert die Zeit mit einem Amokläufer in seiner Klasse und Jugendliche flachsen lässig über Waffen, Gewalt und Ursachen von Amokläufen. Mal ist ein Schauspieler ein Amokläufer, mal alle vier. Wie ein roter Faden ziehen sich Videointerviews von Jugendlichen durch das Stück. Darin äußern sich 16 bis 21-Jährige über Probleme mit Eltern, Lehrern und der Schule, berichten von Mobbing und dem Verarbeiten von Todesfällen. Die Bühne des Melanchthonsaals gleicht einem Klassenzimmer. Hier stehen Tafel, alte Schulbänke und –stühle. Es wird der Schauort von Klagen über Leistungsdruck und psychopathischen Reden von Attentätern.
„Ich bin nicht frei von Wut und Bitterkeit“
Die Jungschauspieler überzeugen mit dem Spiel von Wahnsinn und Emotionen. Es beängstigt, wenn sich Ariane Kareev in der Rolle einer Amokläuferin von einer Person mit unsicherer Stimme und fragiler Erscheinung urplötzlich in eine wahnsinnige Fanatikerin wandelt, die mit zuckersüßem Grinsen von ihren krankhaften Fantasien spricht.
In einer Zerstörungsorgie wird die Bühnendekoration verwüstet. Vier Amokläufern entladen alle Wut in einem geballten Aufschrei, der emotionale Höhepunkt. Diesen inszeniert Aydoğdu berechnend, sie spielt mit den Emotionen des Publikums. Max Braun läuft als Attentäter durchs Publikum, kramt aus einem Kasten in der Treppe des Ganges eine Pistole und haucht einzelnen Besuchern mit „Bam, du Penner, weg bist du“ symbolisch das Leben aus. Das hinterlässt ein verstörendes Bild: Die Waffe aus der Mitte der Gesellschaft. Das Publikum wird vereinnahmt für die perfide Argumentation des Amokläufers.
Menschen umbringen, um damit etwas bewegen zu wollen: Eine Deutungsweise, die gesellschaftlich wenig diskutiert wird. In Rollen von Schülern stellen die Schauspieler fest, wer nach solchen Gräueltaten in Erinnerung bleibt: Die Täter. Sie schreiben Geschichte, halten das öffentliche Leben an. Wenn auch nur für eine Woche.
Burak Göktepe und Thekla Fliesberg in der Elternrolle eines Amokläufers zerbrechen vor Schuld. Ihr Sohn war in der Familie gut integriert. Ein gemeinsames Essen und Unterhalten war selbstverständlich. Doch vielleicht war der Besuch des Gymnasiums überfordernd.
Gegen allgemeine Deutungen
Exemplarisch wird der Tathergang des Erfurter Amoklaufs geschildert: "Der Amokläufer geht in einen Klassenraum und tötet den dort anwesenden Lehrer. Im gegenüberliegenden Klassenraum tötet er den unterrichtenden Lehrer..." Das Wort „Lehrer“ wird eingehämmert und zeigt die offensichtliche Absicht des Täters. Das anschließende, faktische Fazit wirkt im Kontext fast sarkastisch. Die Aufzählung von pauschalen Gründen passt nicht zu vorherigen Deutungsversuchen.
Aydoğdu inszeniert ihr Regiedebüt professionell und intensiv. "Verloren" gibt keine Antworten, sondern regt zum Nachdenken an, ob die medial verbreiteten Klischees von desinteressierten Lehrern, versagenden Eltern und gewaltverherrlichenden Computerspielen nicht zu einfach seien. Ob Schüler, Lehrer, Eltern oder Amokläufer: Alle versuchen, zu verstehen oder verstanden zu werden. Aus allen Ansätzen finden sie ihre eigenen Wahrheiten. Denn einen richtigen Umgang mit dem Unvorstellbaren gibt es nicht.
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