Aus dem Draußen nach Drinnen strömen die Zuschauer, aus dem Innern tönt bereits urbanes Leben, Bilder flimmern. Eine rohe Holzbox versperrt die Sicht. Schauspielintendant Kay Voges hat in Dortmund seine Inszenierung der „Waisen“ des Briten Dennis Kelly in das ehemalige Museum am Ostwall verlegt. Im leer stehenden Atrium stehen nun die Besucher und warten darauf, aus allen Himmelsrichtungen in die überdimensionale Puppenstube zu strömen, wo sie Unerhörtes erwarten soll. Kein „Jack in the box“, sondern die fokussierte Zertrümmerung der urbanen Utopie vom liberal-integrierten Miteinander. Die 80 Geister im Dunklen umlagern also eine schicke Küche irgendwo in Dortmund. Hier haben sich Helen und Danny eingerichtet. An diesem Abend ist Sohn Shane ist bei der Oma, Zeit für ein Candle-Light-Dinner und vielleicht etwas mehr. Also Weinflasche auf, das Drinnen scheint sicher, draußen warten nur Geister. Und Helen ist wieder schwanger.
In diese tröpfelnde Normalität hinter Kunststoffrollos platzt nun Liam, der Bruder von Helen. Blutverschmiert ist er. Verwirrt scheint er, im Draußen scheint etwas passiert zu sein. Schnell wissen alle, dass die Geschichte, die er erzählt, nicht stimmt, Helen und Danny starten eine Befragung und ganz langsam bilden sich wechselnde Fronten. Die heilige Familie bekommt Risse, Liam ein frisches T-Shirt. Die Wahrheit über die dunkle Welt da draußen ist nicht angenehm, das wissen alle drei und haben die Auswirkungen bereits am eigenen Leib erfahren. Helen will deshalb wegziehen, Danny ist bereits verprügelt worden, ignoriert die Geister, Liam ist ein Psychopath. Er hat schlechten Umgang und einen harmlosen türkischen Mitbürger entführt und gefoltert. Die Familie schwebt zwischen Untergang und Mittäterschaft. Sie wird diesen labilen Zustand nicht überdauern. Das zerstörerische Draußen ist ins Drinnen gelangt.
Kay Voges verdichtet durch den Einsatz der Box diese Story. Er macht den Zuschauer geschickt zu dem, was Draußen lauert, was die Szenerie beobachtet, zu dem was die Ursache allen Übels ist, zu den Wegschauern beim Hinsehen. Insofern ist die Metaebene inszenatorisch gelungen, sind die Schauspieler großartig besetzt, die Idee mit der Kiste hervorragend. Für die Zuschauer ist es ein Erlebnis so dicht am Geschehen zu sein, für die Schauspieler wahrscheinlich nicht. Nicht nur, dass die Rampe fehlt, die möglichen Bewegungen extrem eingeschränkt sind, auch ihre Blicke müssen die Schauspieler über die ganzen zwei Stunden unter Kontrolle haben, denn die Zuschauer als Geister sind ja nicht sichtbar – und wer wollte beim voyeuristischen Blick in die geschlitzte Peepshow schon gern entdeckt werden? Das alles wurde choreografisch geschickt gelöst, wenngleich das hochgelobte Stück von 2009 auch ein paar inhaltliche Macken hat.
Schnell hat man nämlich den Kern des Pudels erkannt, wartet nur noch auf die Auflösung. Die Verstrickungen basieren auf der Annahme, dass die Familie als letzter Hort vor dem Chaos draußen erst einmal mit allen Mitteln geschützt wird. Das Problem dabei ist, nicht alle Gewalt im Dunklen wird von Psychopathen verübt. Liam, der von Christoph Jöde sehr intensiv und überzeugend gespielt wird, ist schon in seiner Jugend auffällig geworden, ob er auch seine Eltern auf dem Gewissen hat, könnte angedeutet sein, wird aber nicht belegt. Dieser Junge fällt nun durch alle Raster: im Heim, in der Schule und in der Familie, die diesen Zustand auch eher verschlimmert hat. Seine Schwester Helen (Melanie Lüninghöner) schafft deshalb nie den Absprung aus der Gewaltspirale. Das wäre in sich genommen ein Einzelschicksal. Dass Liam dann auch noch ausgerechnet in die Fascho-Szene gerät, ist dramaturgisch weit hergeholt, als Begründung für die Zertrümmerung der urbanen Utopie vom liberal-integrierten Miteinander ziemlich unbrauchbar. Dass die hier handelnden Personen so agieren, wie sie es tun, dass sie Regeln für persönliche Interaktionen brechen, muss so sein, sonst würde das Stück nicht funktionieren. Es ist fast körperlich spürbar, wie Danny (Frank Genser) unter diesem Dilemma leidet. Die Prämissen behalten die Oberhand, doch die Ursachen dafür liegen eher in den 80 um die Küche herum versammelten Geistern. Wenn Kay Voges also das Stück nur als Vehikel für diese Feststellung benutzt hat, dann wäre diese Inszenierung in sich schlichtweg genial.
„Waisen“ von Dennis Kelly I R: Kay Voges I Theater Dortmund im ehem. Museum am Ostwall I Do 7.7., Fr 8.7., Sa 9.7., Mi 13.7., Do 14.7., So 17.7. je 20 Uhr | 0231 502 72 22
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