Duschen bei 10 Grad Außentemperatur. Bohnen kochen am Lagerfeuer. Einen Menschen verschwinden lassen. Mit dem Hengst ausreiten. Der „perfekte Tag“ in René Polleschs drittem Teil seiner Ruhrtrilogie fand wieder auf der Mülheimer Brache statt, wo im letzten Jahr bereits die Filmstadt „Cinecittà“ von Bert Neumann gestanden hat. Und dort soll der Schauspieler Fabian Hinrichs nun das Rad neu erfinden. Spärlich bekleidet, mit endlosen Textmengen und großen Gesten erklärt er die existenzielle Lüge der menschlichen Evolution, die zwar Hunderte von Gegenständen erfunden habe, aber über den wichtigsten Teil ihres Daseins so gut wie nichts wisse. Und so ist der perfekte Tag, den Hinrichs vollmundig zu Beginn ankündigt und der bis in die Morgenstunden reichen soll, nicht das Hawaii in Mülheim, er umrahmt das ewige Unbehagen vor einer Gesellschaft, in der die Lüge perfektioniert wurde und funktioniert, obwohl alle ihre Unwahrheit erkennen.
Nur wenn der Zuschauer also die Nicht-Wahrheit hinter den Kulissen bemerkt, kann er zuhören, hören, was Pollesch mit „du verstehst all das, was zum Verstehen und zum Hören und zur Kommunikation beitragen soll, aber du hörst mich nicht abseits dieses Verstehens“ tatsächlich meint. Nämlich das brutale Kommunikationslose zwischen den jeweiligen Körpern. Und damit ist der letzte Teil des über drei Jahre gespannten Open-Air-Projekts, in dem die Stadtlandschaft Ruhr und auch die Kulturhauptstadt nur eine tragende Nebenrolle spielen, das Ergebnis der zwei Tatbestandsbeschreibungen vorher. Quasi die Synthese aus dem, was sich dem Konsum entzieht und dennoch dazu beiträgt, ihn zu ermöglichen.
Fabian Hinrichs ist dafür der perfekte Protagonist. Bert Neumann der perfekte Bühnenbildner. Der Schutt einer untergegangenen Industrieregion der perfekte Untergrund. Dem Tod gehört natürlich die Schlusssequenz der Arbeit über unsere Gesellschaft der Lügen. Und auch Polleschs Zukunftsvision. Wir müssen zur nächsten Gesellschaft übergehen, das Rad neu erforschen und erfinden. Dann können wir „einen anderen Typ der Individualität erfinden. Wesen, die nicht sklavisch an der Wahrheit kleben“. Und das hat nichts mehr mit der großartigen Ich-Erfindung zu tun, die vergessen hat, wofür ihr Herz überhaupt schlägt. Die Bohnen auf dem Lagerfeuer sind da längst verbrannt, der verschwundene Mikrofongalgenträger hat sich aus der Zauberdecke davongestohlen. Ein perfekter Abend ist zu Ende.
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20
Donna Quichotta der Best Ager
„Linda“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/20
Spiegelei, Toast und Tier
„Das Reich der Tiere“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 12/19
Heute geht es auch ohne Brandbeschleuniger
„Biedermann und die Brandstifter“ in Essen – Theater Ruhr 11/19
Desinfiziert und doch tot
„Die Pest“ in Moers – Theater Ruhr 11/19
Wenn Datenberge erodiert sind
„Identität“ in Dortmund – Theater Ruhr 11/19
Biografisches Sightseeing
Babett Grube inszeniert „Alles ist wahr“ in Oberhausen – Theater Ruhr 11/19
Amouröse Programmierung
„Ein Sommernachtstraum“ am Theater Oberhausen – Theater Ruhr 07/19
Mit Drogen locker durchs Leben
Huxleys „Schöne neue Welt“ in Bochum – Theater Ruhr 07/19
Aufm Arbeitsamt wird gesabbert
„Willems wilde Welt“ von theater glassbooth – Theater Ruhr 07/19
Morden als Maloche
Harold Pinters „Der Stumme Diener“ in Essen – Theater Ruhr 06/19
Schaut wie die Kirschbäume fallen
„Der Kirschgarten“ in Essen – Theater Ruhr 06/19