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Die Macht der Verlogenheit

01. Januar 2010

Philipp Preuss inszeniert Jean-Paul Sartres "Nekrassow" am Dortmunder Theater - Theater Ruhr 01/10

Türen über Türen, die einem geöffnet werden können, die etwas verbergen, die in neue Räume führen. Das Bühnenbild (Ramallah Aubrecht) ist mehr Kunstwerk denn Ausstattung und erinnert mich frappant an Arbeiten des belgischen Künstlers Jan de Cock. Meine Augen fühlen sich also wohl. In diesem Türbau zu Babel sitzt also die Redaktion einer Zeitung, ein Regierungsorgan und auch noch etwas rechtslastig. Hier hockt auch der abgehalfterte Journalist Sibilot (köstlich Barbara Blümel), mit dem Auftrag, die Kommunisten kaputt zu schreiben, damit im Volk wieder Todesangst vor dem Feind herrsche. Wenn 80 Prozent glauben, im Bett zu sterben, dann hat der Militarismus wenig Chancen. Das passt dem Aufsichtsrat nicht, Herausgeber Jules Palotin (Alexander Gier) muss deshalb um seinen Job bangen, der Hierarchie nach anschließend Sibilot auch. Lösung: Eine Kampagne muss her gegen die Linke.

Sieben Bilder, knapp drei Stunden. Philipp Preuss inszeniert Jean-Paul Sartres „Nekrassow“ in Choreografien ohne Persönlichkeiten, in Hetzjagden ohne Häscher mit Individuen so austauschbar, wie das Mobiliar selbst. Menschliche Roboter mit Ansichten ohne Philosophie, mit Bewegung ohne Haltung. Muss bei Sartre noch eine polarisierte Gesellschaft in Links und Rechts fürs Satyrspiel herhalten, so kommt die aktuelle Weltpolitik schon längst gänzlich ohne Richtungsstile aus. Politik, Wirtschaft und Journalisten kämpfen eher ums Ego und die letzte Machtposition. Auch Aufsichtsratschef Mouton, kriegsversehrt linkisch gespielt von Andreas Vögler, zieht da an vielen Fäden, eben auch an dem seines Herausgebers.

Auf der anderen Seite steht Georges de Valera, ein Hochstapler, frei von Ideologie und Gewissensbisse. Ihn spielt Michael Kamp, leiht ihm Zunge, Verstellungskunst und kluge Worte. Die Verfolger nennen de Valera „den Betrüger des Jahrhunderts, den Mann ohne Gesicht, ein kriminelles Genie“. Er ist der Mann, der am Ende nicht zu fassen ist und natürlich auch noch die Frau abstaubt. Doch erst einmal muss er seinen Selbstmord überleben, den Häschern durch die vielen Türen entkommen und dafür der sowjetische Innenminister Nekrassow werden, der Schrecken der westlichen Welt. Nur so kann er wieder entkommen. Also setzt er sich die Fellmütze auf, rollt das R russisch und sticht ins Netz, ein alter Koffer angereichert mit Atomstaub liefert erwartungsgemäß angsterfüllte Blicke. Die Journaille leckt sich nun die Finger nach Sensationen, die Verleger-Bosse trotz Todesliste fixieren ihr Bankkonto, nur Mouton ahnt die Zusammenhänge. Und so verfängt sich der Held ohne Gesicht zwischen all den Masken und Identitäten denn doch im eigenen Lügennetzwerk, die Angst, die er erzeugte, hält nicht so lange vor.

Regisseur Philipp Preuss nennt das Werk ein Comic-Horrorstück, und so bewegen und benehmen sich seine Figuren auch. Nie wird versucht, der Farce tatsächlich Authentizität einzuhauchen, nie hält der Realismus länger als wenige Sekunden. Dass manche Späße, wie die Darstellung eines Aufzugs durch die Schauspieler, ein wenig antiquiert erscheinen, sei es drum, insgesamt ist es trotz der langen Spielzeit ein angenehmer Abend, den man dem, wenn auch gekürzten Sartre eigentlich kaum zugetraut hätte. Ob die Angst vor „Plan C“ heute noch Eulenspiegeleien möglich machen würde? Wohl kaum. Aber es gibt sie noch, die de Valeras dieser Welt, Schlagzeile von heute: Obama schimpft über „Bonzen an der Wall Street“! Köstlich.


PETER ORTMANN

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