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Die Masken des Bürgertums

29. Januar 2011

Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ in Mülheim an der Ruhr - Theater Ruhr 02/11

Die Holzvertäfelung der Wände erzählt noch von Restbeständen eines bürgerlichen Daseins. Doch an den Kaffeehaustischen sitzen erstarrte Menschen. Oder sie liegen gleich quer über der Tischplatte. Wärter skan- dieren den Tagesablauf und im Hintergrund droht eine Totenbahre. Sa- natorien waren zwar schon immer Orte, an denen Träume und Begehr- lichkeiten wuchsen. Doch in Mülheim hat Regisseurin Simone Thoma bei ihrem Regiedebüt Arthur Schnitzlers Erzählung „Traumnovelle“ gleich in die Räume einer Klinik verlegt, aus der es kein Entkommen zu geben scheint.

Schnitzlers 1926 veröffentlichte Erzählung, die von Stanley Kubrick unter dem Titel „Eyes wide shut“ verfilmt wurde, macht durch die Folie des Realen die Verdrängung, die Begierden und die Entfremdung sichtbar, die den Alltag der Figuren beherrscht. Der Arzt Fridolin und seine Frau Al- bertine stecken mitten in einer Ehekrise und erzählen sich die erotischen Verlockungen des vergangenen Urlaubs. Beide holen diese Sehnsüchte nun in traumhaften Konstellationen nach. Fridolin gerät in eine nächt- liche schwarze Orgie mit nackten Frauen, von denen eine sich für ihn opfert. Albertine durchlebt im Traum den Ehebruch mit einem Fremden, während ihr Mann gleichzeitig gekreuzigt wird. In Mülheim wird aus diesen Träumen surrealer Alltag. Da tauchen unter abgerissenen Tape- ten immer neue auf. Türen bewegen sich von selbst. Der Kostümverlei- her (Klaus Herzog), den Fridolin aufsucht, ist ein Pfleger, der Menschen mit dem Hammer traktiert. Die Regie lässt das Verdrängte von der Leine und zeigt den brüchigen bürgerlichen Firnis. Doch die Trugbilder wirken zunächst wie an der Leine des linearen Erzählens ordentlich aufgereiht und kranken an ihrer allzu akribischen Konstruktion. Man blickt in den Maschinenraum des Theaters und sieht bei der allmählichen Verfertigung von Bedeutung zu.

Zwei Eheleichen am Kaffeetisch

Das ändert sich mit den beiden großen Traumerlebnissen. Zunächst sit- zen Fridolin (Albert Bork) und Albertine (Petra von der Beek) noch wie zwei Eheleichen am Tisch. Der Ton ist ruppig und distanziert, die Bezie- hungsleere hat beide fest im Griff. Fridolins Besuch im Haus der Verlo- ckung verschränkt sich dann mit der Visite im Krankenhaus. Der Arzt trägt Handschuhe und Mundschutz und wird zur Sektion nackt auf die Bahre in einem kühl gekachelten Hinterbühnenraum gelegt. Brüllend weigert er sich, die „Maske“ abzulegen. Die ruhige Erzählung Albertines legt sich wie eine sardonischzarte Liebeserklärung über ihn. Man denkt an die Masken der Bürgerlichkeit bei Carl Sternheim und an die bei Gott- fried Benn diagnostizierten „Verhaltenslehren der Kälte“, die sich hier gekonnt mit Schnitzlers Beschwörung des Unbewussten mischen. Ganz ohne sicheren Halt lässt die Regie den Besucher in diesen Eiswüsten der Gesellschaft aber nicht. Der hinzu erfundene weiß befrackte Arzt Dr. Ad- ler (Roberto Ciulli) führt als Erzähler und Diagnostiker durch den Abend und lässt so Fridolins und Albertines Resümee „Niemals in die Zukunft fragen“ zumindest fragwürdig erscheinen.

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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