Es könnte alles so schön sein: Ein Pianist ist da, die besten Freunde sitzen am Tisch, die Braut hat den Mann für die guten und schlechten Tage gefunden. Und plötzlich fällt ein falscher Satz. Jemand zitiert aus Shakespeares „Was ihr wollt“ die Zeile „Wenn die Musik die Nahrung für die Liebe ist …“. Die junge Frau kontert sofort mit „So voller Wahnsinn ist die Raserei, die Liebe heißt“. Dann packt sie der Furor (Rotwein über den Kopf, Hochzeitstorte in die Haare), und sie rast gegen die ruhige Konvention. Mit einem Feuerwehrschlauch setzt sie die Bühne unter Wasser – und damit ist der Abend mitten im Sturmauftakt des Stücks.
Roger Vontobel inszeniert „Was ihr wollt“ und macht auf berührende Weise Ernst mit den brüchigen Identitäten, sozialen Geschlechtscodierungen und der Verwirrung, die all das stiftet. Viola tritt nach ihrem Schiffbruch als Junge verkleidet in den Dienst des Herzogs Orsino. Michael Schütz spielt ihn als Udo Jürgens von Illyrien, ein Klavier spielender Schöngeist, dem man den nagenden Liebeskummer zu Gräfin Olivia nur halb abnimmt. Viola, inzwischen selbst verliebt in Orsino, gibt den Liebesboten, von dem die handfeste Gräfin der Katharina Linder schnell hingerissen ist und ihre Trauer, die sie im schwarzen Badeanzug mit Cocktail auslebt, schnell vergisst.
Auf der Forellenteichbühne mit ihren drei Wasserbecken unter einem Glühbirnenfischernetz wird (allzu) ausgiebig geplanscht. Einer muss immer in die Brühe. Meist erwischt es das Komikertrio Bleichenwang (Florian Lange), Toby Rülp (Matthias Redlhammer) und Zofe Maria (Friederike Becht), die ausdauernd „Weißer Hai“ spielen, Duelle fingieren oder sich versehentlich zum Schein ertränken. Vor allem die Intrige gegen Malvolio wird zu einem Höhepunkt der Komik, umso mehr, weil Martin Horn ihn als extrem schlechtgelaunten Butler gibt. Als Gegengewicht zum Irrwitz dieser Viererbande verschärft Regisseur Roger Vontobel die Camouflage der Hauptfigur zu einem schweren Identitätskonflikt. Die androgyne Jana Schulz als Viola zeigt die geschlechtliche Zerrissenheit als existenzielle Lebenskrise zwischen den Polen des Weiblichen und Männlichen. Ein Konflikt, der durch die geschlechtliche Rollenzuweisung der anderen sich noch verschärft. Vontobel macht dies nicht nur dadurch deutlich, dass er Viola immer wieder Statisten an die Seite stellt, die sie als Braut und als jungen Mann zeigen; Jana Schulz spielt auch Violas verschollenen Zwillingsbruder Sebastian, der damit zu ihrem Alter Ego wird. Es sind gerade die Übergänge, die Verwandlung der Figuren zwischen den Identitäten, die Vontobel mit verwirrender Brillanz gelingen. Die Komödie mündet so allmählich in eine Tragödie. „Du sollst so sein, wie ich dich haben will“, schreien am Ende alle Viola ins Gesicht und zerren an ihr herum, bis sie tot ins Wasser sinkt.
Verwirrend an diesem Abend (2. Vorstellung) war noch etwas anderes: Vor dem Theater hatten sich Mitglieder von „Occupy Bochum“ versammelt, die sehr brav, sehr zivilisiert, sehr ruhig ihr Anliegen in der Stückpause kundtun wollten. Das Schauspielhaus und seine Besucher allerdings wurden von einem dichten Polizei-Cordon abgeriegelt: Was in New York die Banken und der Verkehr, das ist in Bochum das Theater. Plötzlich steht man selbst auf der falschen Seite und findet sich einem Identitätskonflikt ganz anderer Art wieder.
„Was ihr wollt“ | R: Roger Vontobel | Schauspielhaus Bochum | 9./16./17.12., 19.30 Uhr | 0234 33 33 55 55
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