Wenige Tätigkeitsfelder sind so klischeebeladen wie das des Dichtens. SchriftstellerInnen, das sind einsame, nachdenkliche, melancholische Wesen. Da, wo die Realität von Traurigkeit durchtränkt wirkt, waren DichterInnen am Werk.
Die Duisburger Lyrikerin Lütfiye Güzel, die für den Literaturpreis Ruhr 2014 nominiert ist, wird gerne als prototypische Vertreterin dieser melancholischen Zunft lanciert. In ihren bisherigen Bänden „Herz-Terroristin“, „Let's go Güzel“ oder zuletzt „Trist Olé“ schildert sie in Kurzgeschichten und Gedichten den trostlosen Großstadtalltag in Duisburg-Marxloh. Neben dem plakativen, in Verse verpackten Unglück gibt es auch eine handwerkliche Dimension, die das Schreiben ausmacht. Hierzu passt auch das Projekt, in das Güzel eingebunden ist: Die Lyrikerin, die schon unter anderem an Poetry-Slam-Workshops mit SchülerInnen beteiligt war, arbeitete zusammen mit Jugendlichen in einer Schreibwerkstatt des Zentrums für Integration und Bildung (ZIB) in Oberhausen.
Im Rahmen dieses Projekts bot das ZIB einen gemütlichen wie ungewohnten Veranstaltungsraum für eine Lesung Lütfiye Güzels. Hier, wo sonst viele Kinder und Jugendliche die in öffentlichen Debatten gerne für gescheitert erklärte Multikulturalität leben, fand laut Veranstalterin und Projekt-Koordinatorin Serap Tanis erstmals eine Lesung statt.
Stühle sind zu einem kleinen Viertelkreis zusammengerückt, Teelichter leuchten, durch die murmelnde Runde wird noch türkische Schokolade gereicht, bevor die Schriftstellerin trotz des kleinen Raums ins Mikro spricht, um die Lesung zu beginnen. Das Gemurmel klingt ab. Stille. „Ich mag das, wenn es so ruhig ist“, legt Güzel nicht ohne einen augenzwinkernden Kommentar mit dem Lesen los. Diese ruhigen Momente sind auch nicht unwesentlich für ihre Texte: „Man muss die Stille ertragen.“ Diese ist wesentlicher Begleiter in einer Welt, die vor allem klein ist. Der lyrische Kosmos von Lütfiye Güzel wird kurz und schmerzlos umrissen: Da ist der Vater, ein Schichtarbeiter, die Mutter, die in der Küche werkelt; draußen der alltägliche Lebensfluss der Stadt, drinnen die Stille beim Blick in den Spiegel. Das ist auch ein Coming-of-Age-Motiv, das das lyrische Ich hier schildert. Die zumeist weiblichen Jugendlichen hören gebannt zu.
Es ist aber auch die entfremdete Erfahrung des urbanen Alltags, die hier expressionistisch erschlossen wird – als triste Asphaltlandschaft. Wo einem zu viele „Fressezieher“ begegnen, ab und zu die Straßenbahn durch das triste Viertel klappert, wo vor allem das Glück weit weg ist. Gebündelt ist das im „Blick auf die Stadt, die immer schläft – die Stadt heißt Duisburg.“ Aber Oberhausen sei auch nicht viel besser, fügt die Schriftstellerin süffisant hinzu. Güzels Texte sind oft kurz und prägnant, Gelegenheitsgedichte, die den hässlichen Seiten des Lebens das Schöne und den Schönen das Hässliche abringen. Erfahrungen und Begegnungen werden philosophisch pointiert. Zu entdecken bleibt eine aphoristische Lakonie, die in besten Momenten zuweilen an die Lyrik Brechts erinnert. Die Traurigkeit ist hier der Motor, aber alles durch Zorn und Ironie gebrochen. „Ich lese einfach mal weiter, bis der erste geht“, so die Autorin ironisch. Geblieben sind aber alle bis zum Schluss.
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