Als sich im Dortmunder Schauspielhaus der massive Stahlvorhang ein Stückchen hebt, öffnet sich die Schneekugel des Franz Woyzeck. Vorsichtig und ungelenk arbeitet er sich nach draußen, erkundet die Welt, die sich da auftut, sieht die vielen Zuschauer, die ihn anstarren – und zieht sich zurück in seine gewohnte Wüstenei aus vier Tonnen Schnee, in der nur manchmal die Sterne vom Himmel sinken und ihr Licht strahlend in die Runde schicken. Sein Bewusstsein gleicht dem Fragment, das Georg Büchner der Welt als „Woyzeck“ hinterlassen hat. Sein Leben durchläuft einen dunklen Tunnel, mit seltenen hellen Punkten in der Ferne. Es pulsiert zwischen Ortlosigkeit und Verfolgungswahn. Zwischen holpriger Zuneigung und dem absoluten Verlust der Individualität. Selbst Musik wird zur Qual, wenn man ihren Klang nicht als Melodie deuten kann, Sprachlosigkeit und Entleibung bleiben als letzter Ausweg. Was für eine Wahrnehmung muss Woyzeck haben in diesem einsamen Meer aus Schnee?
Dortmunds neuer Intendant Kay Voges ist bei seiner Auftaktinszenierung mit Hilfe des Bühnenbildes von Pia Maria Mackert eine außergewöhnliche Symbiose aus innerem und äußerem Seelenleben des gepeinigten Organismus Woyzeck in der Person von Axel Holst gelungen. Der schlingert und lamentiert furchtlos über den Frost, findet seltsame Dinge zwischen dem Matsch, kriecht seinen Untergebenen nach und seiner Marie, die fröstelnd den ungeliebten Kinderwagen schiebt und nach dem Tambourmajor Ausschau hält.
Neu ist die Figur von Kumpel Andres. Ihn spielt Paul Wallfisch als sprachloser Pianist im Hintergrund auf dem Klavier. Ungewohnt auch, dass die Männerriege unter rituellen Gesängen (sie rezitieren die Worte „Sand, Staub, Dreck“) ein Baby umbringt, das dann blutverschmiert im Schnee verscharrt wird. Die surreale Dramaturgie lässt vermuten, dass Voges alle Protagonisten als Kopfgeburten des Woyzeck agieren lässt, als seien sie die Geister, die seine Wahrnehmung vernebeln. Am Ende senkt sich der Stahlvorhang wieder, Woyzeck muss zurück ins Gefängnis der psychopathischen Traumwelt. Er wehrt sich verzweifelt – ohne Erfolg.
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