Das Heim ist eine spiegelblanke Fläche. Henrik Ibsens Nora bewegt sich anmutig darauf. Wie ein kleines Kind geistert die dreifache Mutter im Puppen-Tutu tanzend übers Eis, Nur ein stilisierter Weihnachtbaum ist ihre Bühnendeko. Am Heiligen Abend locken Geschenke für alle, Noras Mann ist schließlich befördert worden. Alles ist leicht, die Symphonie des Grauens kann beginnen.
Alle sind längst tot
Regisseur Herbert Fritsch macht in Oberhausen aus Ibsens Ehedrama von 1879 eine düstere Orgie. Nora ist sexualisierter Spielball der gehobenen Gesellschaft. Alle Protagonisten um sie herum schauen unter ihren Rock, lecken Beine und Hals, lustvolle Züchtigungen muss sie als Singvögelchen über sich ergehen lassen. Die tote Gesellschaft, in der sich alles um Geld dreht („ein Glück wenn man es hat“ lebt im Schatten, ist längst gestorben, als Automaten-Zombies geistern sie noch ungelenk übers Eis, das für sie längst viel zu glatt geworden ist. Expressionismus durchzieht die Bilder, Töne aus Hitchcocks „Psycho“ wehen vorbei, warum geht es eigentlich? Das ist in der Bilderflut kaum noch relevant. Dabei gilt das Stück „Nora oder Ein Puppenhaus“ eigentlich als erstes Emanzipationsdrama.
Das liebste Eigentum
Denn das Püppchen hat ihrem Mann, den Bänker Torvald Helmer eigentlich gerettet, als dieser vor Jahren schwer erkrankte. Mit Hilfe einer Urkundenfälschung besorgte sie sich ein Darlehen, finanzierte damit die teure, aber nötige Genesungs-Reise nach Italien. Dieser Lapsus holt sie nun ein, denn Rechtsanwalt Krogstad denkt nicht daran, den Schuldschein mit der Unterschrift ihres Vaters, der bei Unterzeichnung längst tot war, zurückzugeben. Er soll aus Helmers Bank entlassen werden, ausgerechnet wegen Urkundenfälschung. Hier beginnt Manja Kuhl der Nora zum ersten Mal ein etwas anderes Leben einzuhauchen, das Püppchen versucht verzweifelt die Erpressung, Wiedereinstellung gegen Schuldschein, zu überstehen. Immer noch mit einem Lächeln im Gesicht versucht sie verzweifelt den endlich errungenen Wohlstand zu erhalten, denn auch sie ist im Grunde dem Mammon und schönen Schein verfallen, als einzige in ihrem Umfeld aber noch nicht tot. Und noch glaubt sie an den Mann, der sie als sein liebstes Eigentum betrachtet.
Geld, Geld Geld
Dann brennt der Baum, ihre ehemalige mittellose Schulfreundin will auch noch ein Job bei Torvald Helmer, der das als geiler Bock natürlich befürwortet, der ständig sterbende Dr. Krank, auch so ein obszöner Sack, will nicht helfen. Der Brief mit dem Beweis liegt schon im Kasten. Das kunstvolle System der Betrüger, der schöne Schein der Biedermänner scheint zu kollabieren. Jetzt lernt Nora das wahre Gesetz des Geldes kennen, es hagelt Vorwürfe. Torvald kämpft um Ansehen und Stand, nicht um seine Gattin, die längst das Tutu gegen ein laszives kleines Schwarzes eingetauscht hat. Die Angst das Geld, das Geld, Geld, das einzige Glück zu verlieren, mäht jeden Anstand nieder. Nora macht die letzte Wandlung durch. Zu Hause ist sie nicht mehr in Sicherheit.
Die Schicksalsfrauen
Der Zuschauer im Theater auch nicht, geblendet von der Bilderflut bleibt es schwer selbst der Sprache Ibsens zu folgen. Eines ist klar: Die Puppe ist erwachsen geworden. Die Puppe hat ihr Heim verloren. Selbst als sich die Erpressung durch eine Fügung erledigt, das Leben in der gehobenen Gesellschaft weitergehen könnte, kann Nora nicht weiter Eigentum bleiben, nicht Willen und Gewissen dem Ehemann überlassen. Sie geht und lässt alles hinter sich. Wie bei den Brüdern Grimm wird sie für diesen Schritt ausgerechnet mit einem Geldregen belohnt. Doch das Ende scheint kein gutes zu sein. Die drei Nornen sinken aus dem Bühnendach und rufen: Nora, Nora Nora. Könnte es sein das auch ihr Schicksalsfaden durchschnitten wurde und sie vielleicht als Zombie wiederkehrt? Zum Applaus stehen alle noch einmal regungslos im Viereck da. Jeder darf einmal in die Mitte. Die Positionen wechseln, das System ist nicht geknackt. Schade eigentlich.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20
Donna Quichotta der Best Ager
„Linda“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/20
Spiegelei, Toast und Tier
„Das Reich der Tiere“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 12/19
Heute geht es auch ohne Brandbeschleuniger
„Biedermann und die Brandstifter“ in Essen – Theater Ruhr 11/19
Desinfiziert und doch tot
„Die Pest“ in Moers – Theater Ruhr 11/19
Wenn Datenberge erodiert sind
„Identität“ in Dortmund – Theater Ruhr 11/19
Biografisches Sightseeing
Babett Grube inszeniert „Alles ist wahr“ in Oberhausen – Theater Ruhr 11/19
Amouröse Programmierung
„Ein Sommernachtstraum“ am Theater Oberhausen – Theater Ruhr 07/19
Mit Drogen locker durchs Leben
Huxleys „Schöne neue Welt“ in Bochum – Theater Ruhr 07/19
Aufm Arbeitsamt wird gesabbert
„Willems wilde Welt“ von theater glassbooth – Theater Ruhr 07/19
Morden als Maloche
Harold Pinters „Der Stumme Diener“ in Essen – Theater Ruhr 06/19
Schaut wie die Kirschbäume fallen
„Der Kirschgarten“ in Essen – Theater Ruhr 06/19