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Programme haben es auch nicht leicht: Realität oder nicht, das sagt euch gleich das Licht
Foto: Birgit Hupfeld

Digital Puppets on a String

27. Juni 2013

Claudia Bauer inszeniert unterhaltsamen Comic-Fassbinder am Dortmunder Theater – Theater Ruhr 07/13

Die Zukunft wird nicht einfacher. Wenn sie auch nur virtuell bleiben mag. Selbst Cyborgs haben manchmal technische Probleme, die Programmierung der Extremitäten ist überaus kompliziert. Wehe, wenn die Bewegungen nicht synchron ablaufen, dann haben die Mitarbeiter des Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung richtig Arbeit, oder liegt es etwa an ihnen selbst? In Claudia Bauers Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Vision einer „Welt am Draht“ (nach dem Roman „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye) am Theater Dortmund scheinen bereits mechanische Puppen die realen Protagonisten ersetzt zu haben, die sich selbst im Computer eine ganze Welt erschaffen haben, um darin spazieren zu gehen, dort zu sterben oder sich auch zu verlieben. Eigentlich sollte das Programm ja präzise Zukunfts-Prognosen erstellen, für wirtschaftliche und politische Vorgänge, aber wer will das schon? Die Wissenschaftler natürlich nicht, der korrupte Institutsleiter Herbert Siskins (Ekkehard Freye) schon, er verhandelt bereits mit der Vereinigten Stahl AG, kein Wunder an der Ruhr.

Alle scheinen in einen in die Realität versetzten Comic gepresst zu sein, in dem einfache Methoden auch ohne physikalische Gesetze höchsten Ansprüchen genügen. Gut, dass der Chefprogrammierer Fritz Walfang (Björn Gabriel) immer eine Packung Kleenex am Laptop mit Hebel stehen hat, das ist bei Fehlversuchen mit dem Simulacron schon die halbe Miete, denn lediglich eine am Strick heruntergelassene, schick illuminierte Kiste, in der Schauspieler mit Pappmasken ihre Identität doppeln, stellt den gigantischen Rechner nebst virtuelle Oberfläche dar. Die programmierten Identitätseinheiten darin wissen ja eh nicht, dass sie nur aus Einsen und Nullen bestehen. Gut, dass wohl auch nicht viele der Zuschauer (interessanterweise Jüngere und Ältere) den TV-Zweiteiler von Fassbilder von 1973 kennen, der damals mit Klaus Löwitsch, Barbara Valentin und in einer Nebenrolle sogar einem gewissen Rainer Langhans (aber wer kennt den schon heute noch?) nach heutigem Stand der Computeranimation eher einen halben „Tatort“ gedreht hat. Skurril und erkenntnistheoretisch visionär war das Drehbuch zwar, aber das lag dann doch eher an der Galouye-Vorlage.

Davon ist die Inszenierung von Claudia Bauer dankbarerweise weit entfernt. Sie choreografiert einen mechanisch amüsanten Abend mit vielen, auch knuffigen Bildern und skurrilen Einfällen wie Uwe Schmieder als Psychologe Hahn in Frauenkleidern. Zu Beginn trennt der Eiserne den Zuschauerraum vom „Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung“, dahinter harren im Nebel die bewegungslosen Schauspieler, einer (der Leiter Professor Henri Vollmer, gespielt von Sebastian Kuschmann, der noch drei weitere Rollen bedient) durchbricht die Starre, lacht „Träumer? Nein.“ und verschwindet im Trockeneis-Qualm. Die anderen diskutieren die neue Lage, lassen sich von cyborgartigen Wesen bedienen. Schon hier wird klar, dass diese Welt nie die Realität sein dürfte. Die Schauspieler kontrollieren die Posen, die ihren Text ständig begleiten. Maschinengeräusche wie einst vom jungen Synthie-Papst Pierre Henry trennen die Szenen. Als sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass der Realität noch eine übergeordnete folgt, wird der halbe Kriminalfall mit verschwundenen Menschen auch noch zur Liebesgeschichte zwischen Fred Stiller (Frank Genser), Vollmers Nachfolger beim Simulacron, und dessen Witwe Eva (Bettina Lieder). Die ist nämlich die Beobachterin von oben und hat einen Weg gefunden, die elektronischen Versuchskaninchen mittels Gehirnaustausch mitzunehmen. Am Schluss stehen sie in der realen Welt, die exakt so aussieht wie die Simulation, die sie gerade verlassen haben. Alle blicken in den Zuschauerraum, Richard Sanderson intoniert „Dreams are my reality“, ja sind denn jetzt alle von der Matrix gezüchtet? Ich nehme auf jeden Fall die rote Pille.

„Welt am Draht“ I Schauspielhaus Dortmund I Fr 5.7. 19.30 Uhr I 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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