Das Wintermärchen (engl. „The Winter's Tale") ist eines von William Shakespeares späten Stücken und wird eigentlich selten auf den Bühnen gespielt. Das mag an der ziemlich kruden Handlung liegen, vielleicht aber auch an seiner Unbekanntheit. Eigentlich war es von den Herausgebern der ersten Folioausgabe 1623 als Komödie gedruckt worden. In neuerer Zeit wird es auch mit „Der Sturm" oder „Perikles, Prinz von Tyrus" den Romanzen zugerechnet, ein Umstand, der auch den düsteren Grundkonflikt im „Märchen" spiegelt: Das 1609 entstandene Stück thematisiert die Liebe in ihrer widersprüchlichsten Form: der Zerstörung. Was Freud dreihundert Jahre später als Aggressionstriebe beschrieb, führt Shakespeare schon in seinem Wintermärchen vor. trailer sprach mit Regisseur und Theaterleiter Roberto Ciulli.
trailer: Warum inszeniert man heute Shakespeares Spätwerk?
Roberto Ciulli: Ich glaube, und das gilt für Shakespeare aber auch für andere größere Autoren, dass man immer dann die Türe öffnet, um etwas herauszufinden, das mit unserer Welt, mit unserer Zeit zu tun hat. Gäbe es diese Türe nicht, bliebe immer etwas fremd für uns. Aber ich glaube, einen aktuellen Zugang zu dem Stück gefunden zu haben und dass ich dieses Märchen so erzähle, dass es etwas mit unserer Zeit zu tun hat.
Kann man ein Eifersuchtsdrama überhaupt als Komödie inszenieren?
Ich bin Italiener, ich bin Sizilianer, also kenne ich diese Geschichten zwischen Frauen und Männern sehr gut. Aber noch einmal zum Thema Aktualität: Jeden Tag bringt in Italien irgendwo ein Mann eine Frau aus diesen Gründen um. Und das passiert heute noch häufiger als früher. Das liegt alles an der ökonomischen Krise.
Bleibt die Handlung hier in Mülheim auch in Böhmen am Meer?
Wir zitieren auch Böhmen am Meer, auch da ist Sizilien. Aber es ist ein Sizilien, das wir vielleicht besser kennen als dieses böhmische Sizilien, das Shakespeare beschreibt. Denn dieses Sizilien, das ich jetzt auf die Bühne im Theater an der Ruhr bringe, hat mit der Mafia zu tun.
Aber ist König Leontes nicht eher ein adeliger Hooligan?
Ja, das könnte man so sagen. Aber mein Zugriff auf den Shakespearschen Text ist ein anderer. Für mich heißt Leontes tatsächlich Leontes und deshalb hat er auch einen Spitznamen. Er ist in Mülheim der Löwe von Sizilien und ist ein alter Mafiaboss, der im Sterben liegt.
Ist Liebe in solch üblen Facetten überhaupt noch Liebe?
Liebe hat sehr viele Facetten. Vielleicht auch die schlimmsten.
Und gibt es in Mülheim tatsächlich auch ein Happy End?
Ja, es gibt vielleicht ein Happy End. Aber nur in dem Sinn, dass es kein Happy End gibt. Weil der Anfang bereits das Ende ist. Deswegen kann man nicht von einem echten Happy End sprechen. Man muss sich mit dem Stück, mit dem Thema beschäftigen. Es handelt von einem Menschen, der sehr viel Unrecht getan hat, es ist ein Mensch, der am Ende auch ein ganz schlechtes Gewissen hat. Der hat, wie sollte es anders sein, eben ein paar Leichen im Keller, wie es Könige und eben Mafiabosse nun einmal haben. Er ist schuld daran, dass seine Frau gestorben ist, er ist schuld, dass sein Kind in eine fremde Welt geschickt wurde, und nun erinnert er sich an das alles. Er wünscht sich für sich selber eigentlich ständig ein Happy End. Aber das ist eben nicht einfach.
Und seine Gattin kommt – zumindest als Statue – tatsächlich wieder ins Leben?
Nun, sie kennen vielleicht die Geschichte der Kokoschka-Puppe. Der große Maler Oskar Kokoschka konnte es damals nicht ertragen, dass seine Frau gestorben ist, und so hat er eine Puppe gebaut und anschließend mit dieser Puppe gelebt. Diese Vorgänge hat auch Shakespeare gekannt in seiner Zeit, solche Dinge gab es seit der Antike. Immer dann, wenn eine besondere Person gestorben ist und jemand verzweifelt versucht hat, sie in der Gegenwart zu halten.
Hatte Shakespeare das überhaupt nötig, die Frau am Ende quasi nochmal lebendig werden zu lassen?
Shakespeare selbst hatte eine ähnliche Geschichte. Da gibt es eine Interpretation, die dieses Stück betrifft. Es ist eine Vermutung, dass er eigentlich ein Verhältnis hatte mit der berühmten Dark Lady, das war eine der Hofdamen und sie war verheiratet. Dazu gibt es – wie im Stück – die Geschichte, dass Shakespeare selber Vater einer Tochter war, und dass er diese freiwillig dem Ehemann untergeschoben hat, der das nicht bemerkte. Auch damit hat dieses Stück zu tun. Alle kritischen Dinge, alle rätselhaften Begebenheiten, dahinter steht wahrscheinlich also eine erlebte Geschichte Shakespeares. Und der Wunsch dabei ist, dass wenigstens die Mutter weiterlebte mit dem Kind.
„Das Wintermärchen" | R: Roberto Ciulli | Do 11.12.(P), Fr 12.12., Sa 27.12. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim/Ruhr | 0208 599 01 88
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