Wer es beim Theatergang mal richtig geballt haben will und auf die ganz große Qualität nicht verzichten will, der verzehrt jahrein, jahraus an der Ruhr sieben Schauspiele auf einen Streich. Die „Stücke“, der renommierte Bühnenstreit um den heiß begehrten, mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Theaterpreis werfen ihre Vorverkaufsschatten voraus. Insbesondere das Stück von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (bereits zum 14. Mal ausgewählt) spiegelt das Zeitgenössische so zeitgenössisch wider, dass eine Jury wohl kaum daran vorbeisehen darf und will. „Winterreise“ heißt das neue Opus, erst im Februar an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Mit Bezug auf Franz Schuberts Liederzyklus geht es wohl mal wieder um Finanzgeschichten und Alzheimer oder umgekehrt.
Die richtige Welt um uns herum spiegelt auch Kevin Rittbergers "Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung" (Inszenierung Schauspielhaus Wien). Es geht um den Blick hinein in die Tragödien, die tagtäglich passieren, deren Ursachen wir kennen ohne ein Orakel befragen zu müssen, deren Verhinderung einen einzigen Gedanken benötigen würde – doch wir schaffen das Leid nicht ab, wir helfen lieber nur. Es war Kassandra, die Seherin aus der griechischen Mythologie, der niemand ihre Prophezeiungen glaubte, die Elend auf Elend verhindert hätte, wenn es nicht so einfach wäre mit dem Argument, man könne ja sowieso nichts ausrichten.
Zum 36. Mal findet das Forum deutschsprachiger Gegenwartsdramatik statt. Teilnehmen können nur deutschsprachige Autorinnen und Autoren, deren Stücke im jeweiligen Auswahlzeitraum uraufgeführt wurden. Und man kann es nicht oft genug schreiben, es geht tatsächlich nur um die Stücke, nicht um die jeweiligen Inszenierungen, ein Novum auch im Festivalzirkus. Schlechtes Stück, gute Inszenierung und umgekehrt kann dabei natürlich eine Rolle spielen, doch eigentlich setzen sich immer die guten Stücke durch.
Eins davon könnte auch die Integrationsgroteske "Verrücktes Blut" des türkischstämmigen Regisseurs Nurkan Erpulat und des deutschen Dramaturgen Jens Hillje sein. Seine Uraufführung fand bei der Ruhrtriennale 2010 statt und war eine Zusammenarbeit mit dem Ballhaus Naunynstraße Berlin, Deutschlands einzigem so genannten post-migrantischen Theater. Bei soviel Reflexion des Zeitgenössischen im zeitgenössischen Theater ist es natürlich auch zum Berliner Theatertreffen geladen. Schließlich geht es um Sarrazin und die gängigen Klischees in den Islamdebatten. Eine Lehrerin findet in der Klasse eine echte Knarre, als sie gerade den Klassiker aus der Schublade holt. Kurz entschlossen nimmt sie ihre Schüler als Geiseln und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe auf die Schulbühne zu treten und diesen zu spielen. Es beginnt ein aberwitziger Tanz der Genres, aber auch die totale Dekonstruktion aller vermeintlich klaren Identitäten.
Nicht übersehen sollte der Theatergänger bei der zwingenden Teilnahme am Versuch des gesellschaftlichen Umbruchs durch das Theater die fünf nominierten Werke für Kinder. Zum zweiten Mal wird in Mülheim auch der mit 10.000 Euro dotierte Preis "KinderStücke 2011" vergeben. Er soll helfen, den oft beklagten Mangel an guten und natürlich (natürlich!) aktuellen Theaterstücken für Kinder und Jugendliche zu bekämpfen.
Stücke 2011 – 36. Mülheimer Theatertage NRW
21.5. - 7.6. 2011
Spielorte: Theater an der Ruhr, Ringlokschuppen und Stadthalle Mülheim an der Ruhr
0208 96 09 60
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