Brecht und die Fatzer Tage 2016 im Mülheimer Ringlokschuppen – Premiere 07/16
Der Bestand jedes zivilisatorischen Guts, jedes gesellschaftlichen Fortschritts ist ungesichert, sagt Brecht. Sein 500-seitiges, vielgestaltiges Fragment über uneinige Deserteure im Ersten Weltkrieg, „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“, wird in Mülheim jedes Jahr von unterschiedlichen Gruppen aufgeführt und neu verhandelt. Wir sprachen in Berlin mit Matthias Naumann, dem Dramaturgen der Fatzer Tage.
trailer: Herr Naumann, bringt uns Brechts „Fatzer“ heute wenigstens noch ein Jota weiter? Matthias Naumann: Ja, das würde ich schon sagen. Die Frage ist natürlich, was versteht man unter weiterbringen. Das Fragment ist auf jeden Fall ein Text, der viele Gedanken eröffnet. Über politische Verhältnisse, über Verhältnisse zum Krieg, zu gesellschaftlichen Einrichtungen, zur Frage von Rechten und Ausbeutung, wie sich ein Einzelner gegenüber einer Gemeinschaft verhält. Und ich glaube, da gibt es sehr viele Denkansätze im Text. Gerade dadurch, dass er so offen ist. Und manchmal auch erstaunlich nah – wo man dann denkt, so stark hat sich die Gesellschaft vielleicht gar nicht verändert.
Und wann beginnt dann endlich die Traumzeit von einem neuen Theater in einer anderen Zeit?
Matthias Naumann
Foto: Eva Holling
Zur Person
Matthias Naumann ist freier
Theaterwissenschaftler, Autor, Dramaturg und Übersetzer. Er forscht
und veröffentlicht in den Bereichen Theater, Film und Jüdische
Studien. Naumann studierte Theater, Film- und
Medienwissenschaft, Germanistik und Judaistik. Seit 2013 Dramaturg
für die Mülheimer Fatzer Tage. Aktuelle Stücke: „Schwäne des
Kapitalismus“ und „Die Reise“.
(lacht) Oh, da müsste man jetzt prophetische Gaben haben. Von einem neuen Theater wird ja seit über 100 Jahren immer wieder gesprochen. Wenn man hinschaut, dann sind vielleicht Teile neu, aber vielleicht ist dieses Neue an diesem Theater von Brecht oder – das gilt ja auch nicht für den „ganzen“ Autor Brecht, sondern eher für dieses Fatzer-Fragment und die frühen Sachen, die danach wenig gespielt worden sind und sich so vielleicht auch das Neue erhalten haben. Weil sie eben nicht wie „Mutter Courage“ zum Klassiker geworden sind.
Vielleicht ist der Beginn des neuen Theaters schon in der japanischen Inszenierung von Chiten aus Kyoto zu sehen? Das könnte sein. Das ist auf jeden Fall eine Inszenierung, wo man sagen kann, dass sie ganz viel von Brecht aufnimmt. Es gibt ja auch eine große Brecht-Rezeption in Japan. Und gleichzeitig ist darin auch sehr viel, was gegenwärtiges japanisches Theater ausmacht: die Abstraktion, die Arbeit mit Musik. Unter der Prämisse, wie man nicht darstellt und trotzdem mit den gleichzeitig Handlung und Geschichten erzählenden Texten im „Fatzer“ umgeht, aber jetzt kein naturalistisches oder realistisches Theater damit macht. Ja, vielleicht ist das ein Anfang.
Nun, Brecht macht sich auch Gedanken über die Gemeinschaft und den Einzelnen. Vielleicht wollen wir aber in Europa nicht mehr nach einer weiteren, neuen Gemeinschaft suchen. Wir leben aber doch zwangsläufig in Gemeinschaften. Als soziale Wesen, als Leute, die mit anderen zusammenleben. Die Frage ist, wie man Gemeinschaft definiert. Wenn man sie nicht als biologische, als Abstammungsgemeinschaft auffasst, sondern eher als etwas Offenes, Brüchiges, in dem sich das Zusammenleben auch erproben, testen lässt.
Und das Fragment wird in Mülheim immer in einer Art Laboratorium behandelt? Genau. Also es werden zum einen eben neue Arbeiten wie die der japanischen Gruppe Chiteneingeladen, die sich damit auseinandersetzen. Zum anderen gibt es einen Open Call, der sich dezidiert an jüngere Theaterleute richtet, die gerade so am Ende ihres Studiums bzw. am Anfang ihrer Karriere stehen. Und die diesen Text als Material aufgreifen sollen und nicht eine klassische Inszenierung daraus entwickeln, sondern ihre eigenen Fragen, das, womit sie sich beschäftigen, womit sie sich auf dem Theater auseinandersetzen wollen, an diesen Text herantragen. Und da entstehen ganz unterschiedliche Arbeiten, die mal sehr theatral, mal installativ sind und wie eine Ausstellung funktionieren und mal wie ein Konzert.
Gibt es überhaupt Zuschauer, die wieder über die gesellschaftliche Systemfrage – Kapitalismus ja oder nein – nachdenken wollen? Ja. Den Bedarf gibt es gerade auf den Podiumsdiskussionen. Es gibt ein Symposium mit wissenschaftlichen Beiträgen aus unterschiedlichen Kontexten – also nicht nur aus dem Theater, auch Philosophie, Pädagogik und Film. In dem Zusammenhang gibt es immer wieder Diskussionen, wo sich auch die Systemfrage stellen lässt. Natürlich taucht das auch im politischen Theater immer wieder auf. Gerade auch unter jüngeren Theatermachern mit vielleicht noch einem größeren Wollen oder Anspruch an das, was Kunst schaffen kann. Wie man da vielleicht auch andere Gedanken herstellen kann, dem Publikum eröffnen kann, dass man andere Sachen nochmal denken könnte oder denkbar machen könnte. Die da vielleicht noch stärker mit so einem Impetus rangehen als es ältere Theatermacher tun, die im System drinstecken und ihre Inszenierungen abliefern.
Aber ist es mit dem Fragment „Fatzer“ nicht so, wie mit den Prophezeiungen des Nostradamus? (lacht) Da bin ich jetzt insofern überfordert, als ich die Prophezeiungen nicht gelesen habe. Sie meinen, dass es so rätselhaft ist, dass es sich für jede Auslegung eignet? Ich muss schon sagen, es gibt da sehr rätselhafte Passagen in Brechts „Fatzer“. Weil sie so eine starke Diktion haben, suggerieren sie, dass es ganz klar sei, was sie sagen wollen, aber wenn man anfängt, darüber nachzudenken, sind sie schwer verständlich oder sehr widersprüchlich darin, wie sie über eine mögliche Gesellschaft oder den Weg dahin oder über Politisches oder das Leben sprechen. Und insofern dann vielleicht weniger klassische Texte für das Theater als auch philosophische Texte sind, über die man länger meditieren, länger nachdenken und auch aus verschiedenen Richtungen nachdenken kann. Da gibt es mit Sicherheit auch einen Einfluss von Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer, ostasiatischer Philosophie.
Also ist das Symposium wichtiger als die einzelnen Inszenierungen? Das ist schwer zu sagen, weil der Ansatz ist, dass es zusammen etwas herstellt. Dadurch, dass man sowohl dem Theoretischen, den Diskussionen, den Gesprächen, auch gerade mit den japanischen Gästen über japanisches Theater, als auch dem Praktischen, mit dem Theatermachen, dem Theaterschauen, Raum gibt. Dass man die Seherfahrungen, das, was man sieht, zusammenbekommt mit dem, was man hört, worüber man nachdenkt. Aber das Spektakulärste dieses Festivals ist wahrscheinlich – oder mit Sicherheit – die japanische Aufführung von Chiten.
Fünfte Mülheimer Fatzer Tage | Fr 8.7. - So 10.7. | Ringlokschuppen Mülheim | ringlokschuppen.ruhr
INTERVIEW: PETER ORTMANN
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