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Unfairer Größenvorteil für Isegrim?
Foto: Heike Kandalowski

Rotkäppchen im Schlachthaus

03. Juli 2015

„Rouge Chaperon“ am 2.7. beim Full Spin Festival im Maschinenhaus Essen – Theater Ruhr 07/15

Eigentlich war ich ja ins Maschinenhaus gekommen, um mein persönliches Rotkäppchen-Trauma zu überwinden. Grimms böser Wolf hatte mich schließlich in meinen Kindertagen in zahlreichen Albträumen heimgesucht. Die französische Kompanie Cie Mouka versprach im Rahmen des Full Spin Festivals dem Märchenklassiker neues Leben einzuhauchen und sich dabei einiger Freiheiten zu bedienen.

Die zahlreichen Pannen in ÖPNV und Regionalverkehr sorgen dann fast dafür, dass ich mit einem neuen Trauma aus dieser Vorstellung des „Physical Theatre“ hinausgehe. Verspätet lande ich an diesem Sommertag der Extreme an einem finsteren Ort, sehe durch den abrupten Lichtwechsel zunächst einmal nichts und befürchte schon, dass sich jederzeit die graue Bestie auf mich stürzen wird. Stolpernd ergattere ich einen Platz und entdecke endlich das helle Licht, das die zwei Darstellerinnen Claire Rosolin und Flore Audebeau auf der Bühne im Maschinenhaus umgibt.

Auf einer angeleuchteten Plattform ziehen die beiden ein minimalistisches Figurentheater auf, in dem der dunkle Wald von einem einzigen verkrüppelten Ast verkörpert wird und in dem „Rouge Chaperon“ (so der Originaltitel des Stückes), „le loup“ und „grand-mère“ ein zeitweise verwirrendes Fang- und Versteckspiel aufführen, das manche Volten schlägt und in einer komisch-verstörenden Vergewaltigungsszene des armen Großmütterchens endet. Oder hat sich der Wolf lediglich in einen orgastischen Fresswahn gesteigert? Wie auch immer, die Oma ist nicht mehr zu retten und wird, so suggeriert die nächste Szene, von einer beherzten Metzgerin mit riesigem Fleischermesser in ihre Einzelteile zerlegt, durch den metallenen (Fleisch-)Wolf gedreht und von der wartenden Kollegin in Zeitungspapier verpackt. Was in der flotten Unterhaltung der beiden in französischem Idiom besprochen wird, kann der germanische Zuschauer nur raten. Für den brutalen Isegrim hat das Zerlegen der Greisin immerhin den Vorteil, dass kein Jäger mehr ein intaktes Opfer aus seinem Bauch befreien kann. Stattdessen lädt der nun ins Nachtgewand der Alten gehüllte Wolf Rotkäppchen (beide nun nicht mehr von Figuren sondern den Darstellerinnen verkörpert) zu einem fleischlichen Festmahl ein („what big nose you have, Oma?“). Rotkäppchens Stunde schlägt, nachdem sie zur Kannibalin geworden und vom Wolf verschlungen worden ist. Von innen, so scheint es, nimmt sie Rache an dem finsteren, gierig-geilen Missetäter, der sie zuvor noch mit psychedelisch wirkenden Erdbeeren gefügig machen wollte.

Makabres Happy End also? Charmant und stilsicher ist jedenfalls die Art und Weise wie die französische Truppe den Märchenklassiker „updatet“ und dabei verschiedenste Theaterspielarten vermischt. Abgedrehte Comedy-Elemente, detailreiches Figuren- oder gruseliges Maskentheater wechseln sich ständig ab und bringen dabei das facettenreiche Potential der Darstellerinnen zum Vorschein. Dass diese nicht nur „physisch“ können, zeigen sie in witzigen Dialogen und in einer Opernhaften, gesummten Version von „Stille Nacht, heilige Nacht“. Und ich habe dank „Rouge Chaperon“ gelernt, dass „Physical Theatre“ sich nicht in Pantomime erschöpft.

Und mein Trauma? Habe ich es endlich überwunden? Nun, das wird wohl erst die nächste Vollmond-Nacht zeigen…

Benjamin Seim

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