Das Museum Folkwang hat seine Sammlung neu inszeniert und dafür auch noch nie gezeigte Arbeiten aus dem Depot ans Licht geholt. Darüber spricht Museumsdirektor Peter Gorschlüter.
trailer: Herr Gorschlüter, die virtuelle Welt hat endlich auch das Museum Folkwang erreicht. Wird das den Altersdurchschnitt der Besucher drücken?
Peter Gorschlüter: Ich denke, es ist eine wichtige Aufgabe, dass wir zukünftig ein Museum sind, das alle Altersgenerationen anspricht. Mit dem freien Eintritt in die Sammlung haben wir in den letzten Jahren schon wichtige Schritte in diese Richtung gemacht. Der Altersdurchschnitt ist merklich gesunken, da insbesondere junge Menschen dieses Angebot nutzen. Und wir spüren, dass wir mit unserem neu gestalteten Programm Wirkung erzielen. Allein bei dieser Wahnsinns-Eröffnung mit über 7.000 Menschen war ein unglaublich junges Publikum zugegen.
Welche wichtigen Kunst-Bonbons durften denn endlich das Depot im Keller verlassen?
Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, die noch nie oder lange nicht gezeigt wurden. Das ist leider nicht immer bis ins letzte Detail zu klären, weil die Aktenlage von über 100 Jahren Folkwang-Geschichte nicht so ist, dass wir immer genau wissen, wann welche Arbeit wo und wie gezeigt wurde. Es gibt eine wunderbare Grafikserie „Histoire Naturelle“ (1925) von Max Ernst, die meines Wissens noch nie gezeigt wurde, da sind Werke des Symbolismus von Hans Thoma, die wir lange nicht gezeigt haben, Bilder von Christian Rohlfs. So werden auch Menschen, die das Museum und seine Sammlung vermeintlich gut kennen, Entdeckungen machen. Aber es sind nicht nur Werke der Malerei und der Grafik, die wir hervorgeholt haben, sondern gerade auch viele aus den Bereichen Fotografie und Plakatkunst. Diese spielen eine besondere Rolle, weil wir alle Medien zusammen in einen Dialog bringen wollen. In der Ausstellung ist jeder Raum nach einem, wie wir es nennen, Ankerwerk benannt. Das sind berühmte Werke, aber auch sehr unerwartete, wie zum Beispiel die Plakatkampagne der Deutschen Bundesbahn „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“ aus den 1960er Jahren.
Gibt es in den einzelnen Räumen harte Kontraste, wenn westliche und östliche Kunstvorstellungen aufeinanderprallen?
Ja, das gibt es immer wieder. Wir haben sehr bewusst die Sammlung der Weltkulturen nicht in einem separaten Raum präsentiert, sondern haben sie immer mit Werken der Moderne oder der zeitgenössischen Kunst durchmischt. Und so kann man in vielen Räumen diese Dialoge erleben. Das beginnt schon im ersten Raum, den wir der Menschwerdung gewidmet haben: wo wir die „Eva“ von Auguste Rodin haben, Barnett Newmans abstraktes Gemälde „Prometheus Bound“ und eine mehrere Jahrhunderte alte Skulptur einer Schlange aus dem lateinamerikanischen Kulturkreis. Die Schlange schließt sozusagen den Kreis und führt wieder zu Rodins „Eva“ zurück.
Auch Kunsthandwerk wurde nicht ausgeschlossen?
Mehrere Impulse haben uns dazu geführt, die Sammlung neu zu gestalten. Der erste Impuls war eine Feststellung, dass die Menschen heute zunehmend nicht mehr linear kommunizieren, sondern vernetzt. Da müssen wir uns als Museum die Frage stellen, ist die chronologisch erzählte Kunstgeschichte in Epochen die einzig heute noch gültige? Die Antwort ist klar: Nein, das ist sie nicht mehr. Deswegen haben wir uns entschieden, zukünftig multiperspektivisch zu erzählen und da spielt die Kunstgeschichte nur eine von mehreren Rollen. Der zweite Impuls war, wir wollen uns nach unserem Gründungsgedanken, dem Folkwang-Gedanken ausrichten, den Karl Ernst Osthaus vor über 100 Jahren geprägt hat, mit der Idee, die Medien und die Kulturen übergreifend in Beziehung miteinander zu setzen und das aus einer zeitgenössischen Perspektive. Was bedeutet dieser Folkwang-Gedanke heute? Insofern gab es also keine Ausschlusskriterien, sondern immer die Idee, an die DNA unseres Hauses anzuknüpfen.
Raumansicht: Prometheus Bound
Werke: Barnett Newman, Auguste Rodin, Max Beckmann
Foto: Jens Nober, Museum Folkwang, 2019
Auch im Raum „Le Bassin Aux Nymphéas“ findet ein Treffen der Generationen statt. Spekulieren wir: Was hätte Claude Monet wohl zu Mark Rothko gesagt?
Wir wissen ja, was Rothko über Monet gesagt hat. Er hat sich sehr auf ihn bezogen und ihn als Vorreiter der Moderne bezeichnet – man könnte fast sagen, auch der Postmoderne. Ihn faszinierte, wie er Farbe betrachtet und die Landschaft für eine malerische oder künstlerische Erkundung des Farbraums verwendet hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Monet Rothko als seinen legitimen Nachfolger gesehen hätte.
Kann es sein, dass die Anzahl der Räume zum Mehrfach-Besuch geradezu zwingt?
Wir erzählen 24 Geschichten – und wer liest schon ein Buch mit 24 Geschichten an einem Tag oder in wenigen Stunden? Das war auch ein Ziel von uns, die Sammlung so zu aktivieren, dass die Menschen eben nicht sagen: „Ach, Museum Folkwang habe ich schon gesehen, brauche ich die nächsten Jahre erstmal nicht wieder hin.“ Im Gegenteil: Wir wollen gerade zum Mehrfach-Besuch anregen. Es wird auch so sein, dass sich die einzelnen Sammlungsräume in den nächsten Monaten immer mal wieder verändern werden. Das hat inhaltliche Gründe, das hat aber auch formale Gründe, denn wir haben uns vorgenommen, mehr Werke auf Papier zu zeigen. Aber die wunderbare Grafik, die Fotografie – die können wir nur über einen bestimmten Zeitraum dem Licht aussetzen und so haben wir in der Konzeption der einzelnen Räume immer schon den Wechsel mitgedacht.
Die wohl jüngste Arbeit, die Fotoserie von Samuel Gratacap zeigt Männer ohne Papiere und ohne spezielle Identität. Hat die Kunst nicht längst gegen die westliche Empathielosigkeit verloren?
Kunst wird von Menschen für Menschen gemacht. Von daher ist sie selbst zutiefst emphatisch oder menschlich. Vielleicht gibt uns die Kunst ein Stück weit die Möglichkeit, Empathie zurückzugewinnen oder zumindest kann sie der Ort sein, an dem diese menschlichen Aspekte, unsere Entwicklung, diskutiert und aufgegriffen werden. Das kann auch eine Form von Widerstand gegen Entwicklungen sein, denen der Mensch heute ausgesetzt ist.
Neue Welten. Die Entdeckung der Sammlung | Museum Folkwang Essen | www.museum-folkwang.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Haare als Motiv der Kunst
„grow it, show it!“ im Museum Folkwang, Essen
Hin und weg!
„Ferne Länder, ferne Zeiten“ im Essener Museum Folkwang – Ruhrkunst 05/24
Keine Illusionen
Wolf D. Harhammer im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 03/24
„Wir sind stolz darauf, diese Werke im Bestand zu haben“
Kuratorin Nadine Engel über die Ausstellung zu Willi Baumeister im Essener Museum Folkwang – Sammlung 02/24
Visionen von Gemeinschaft
„Wir ist Zukunft“ im Essener Museum Folkwang – Ruhrkunst 01/24
Aufbruch und Experiment in Paris
Meisterwerke der Druckgraphik im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 10/23
Kompatibel mit Museum
Rafaël Rozendaals NFTs in Essen – Ruhrkunst 05/23
Schütten statt Pinseln
Helen Frankenthaler im Museum Folkwang – Ruhrkunst 01/23
Sie macht ihre Reisen im Internet
Thomas Seelig über Daniela Comani im Museum Folkwang – Sammlung 01/23
Es zählt nur die Botschaft
We want you! im Museum Folkwang – Kunstwandel 07/22
„Zugespitzt auf das eigene Haus und seine Geschichte“
Tobias Burg und Rebecca Herlemann über die Ausstellung „Expressionisten am Folkwang“ – Sammlung 07/22
Impressionistische Meisterwerke
„Renoir, Monet, Gauguin“ im Museum Folkwang – Ruhrkunst 03/22
„Mangas sind bei der jungen Leserschaft die Zukunft“
Leiter Alain Bieber über „Superheroes“ im NRW-Forum Düsseldorf – Sammlung 11/24
„Weibliche und globale Perspektiven einbeziehen“
Direktorin Regina Selter über „Tell these people who I am“ im Dortmunder Museum Ostwall – Sammlung 10/24
„Jeder Besuch ist maßgeschneidert“
Britta Peters von Urbane Künste Ruhr über die Grand Snail Tour durch das Ruhrgebiet – Sammlung 09/24
„Auch die Sammler beeinflussen den Künstler“
Kurator Markus Heinzelmann über die Ausstellung zu Gerhard Richter in Düsseldorf – Sammlung 08/24
„Die jüdische Renaissance ist nicht so bekannt“
Museumsleiterin Kathrin Pieren über „Shtetl – Arayn un Aroys“ im Jüdischen Museum in Dorsten – Sammlung 08/24
„Auf Fautrier muss man sich einlassen“
Direktor Rouven Lotz über „Jean Fautrier – Genie und Rebell“ im Emil Schumacher Museum Hagen – Sammlung 07/24
„Eine von Verflechtungen und Austausch geprägte Welt“
Kuratorin Julia Lerch Zajaczkowska über Theresa Webers „Chaosmos“ im Kunstmuseum Bochum – Sammlung 06/24
„Keine klassischen Porträtfotografien“
Kuratorin Kerrin Postert über „UK Women“ in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen – Sammlung 06/24
„Sowohl Bio als auch Fastfood“
Nico Anklam über Søren Aagaards Ausstellung bei den Ruhrfestspielen 2024 – Sammlung 05/24
„Die Realitäten haben sich verändert“
Die Kuratorinnen Özlem Arslan und Eva Busch über die Ausstellung zur Kemnade International in Bochum – Sammlung 04/24
„Das kann einem einen kalten Schauer bringen“
Direktor Tayfun Belgin über die Gottfried Helnwein-Ausstellung im Osthaus Museum Hagen – Sammlung 04/24
„KI erlaubt uns einen Einblick in ein kollektives Unbewusstes“
Kuratorin Inke Arns über Niklas Goldbachs „The Paradise Machine“ im Dortmunder HMKV – Sammlung 03/24