In Oberhausen werden die Zuschauer zu Agenten des Theaters. Sie sollen die unerhörten Vorgänge um einen gewissen Fürst Myschkin belauschen, doch die Luft im Raum ist voller Musik. Nur mühsam funktioniert die Abhöranlage Ohr, die rauschende Handlung ist verzerrt, das Bühnenbild undurchsichtig, auch die Protagonisten werden dort nicht müde durch Löcher und in Ecken die Szenerie zu bespitzeln. Wie schrecklich es ist, wenn man einem spannenden Gespräch mitlauschen will, durch Geräusche aber stark beeinträchtigt wird, das zeigt das ukrainische Theater-Enfant terrible Andrij Zholdak am Oberhausener Theater.
Das wunderbare Bühnenbild (Tatyana Dimova und Andrij Zholdak) besteht aus zwei Räumen und gewährt durch die Terrassenfenster einen Blick in den Garten mit Birken dahinter. Hier werden die Liebesgeschichten in der gehobenen russischen Gesellschaft verhandelt, hier finden die Intrigen um sexuelle Macht, Politik und Soziales statt. Seit Jahren beschäftigt sich Zholdak mit dem Dostojewski-Stoff. Er hat den Weltroman „Der Idiot“ (1867/68) bereits in russischer und rumänischer Sprache adaptiert, feilt an Interaktionen und Personenführung, misstraut der Intention Fjodor Dostojewskis von der Darstellung des im positiven Sinne schönen Menschen“. Ihm sei das Territorium der Träume interessanter als die Wirklichkeit, sagte der ehemalige Intendant des Schewtschenko-Theaters im ukrainischen Charkiw bereits vor Jahren im Interview. Nur drei Jahre hielt er trotz genialer Inszenierungen in Charkiw durch, dann begann seine unfreiwillige Odyssee durch Europas Theater.
In Oberhausen spielt ein großartiger Michael Witte seinen Fürsten Myschkin, der nach einem Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium nach Petersburg zurückkehrt. Im Zug lernt er den Millionär Rogoschin kennen. Man ist sich sympathisch. Rogoschin erzählt von der schönen Nastassja Filippowna, die er leidenschaftlich liebt, die aber noch als Kurtisane ausgehalten wird. Bereits hier verläßt Zholdaks Regie die Realität, als Prolog tritt ein Clown mit Pauke auf, mischt sich in die Gespräche im Kleiderschrank, der für das Zugabteil herhalten muss. Auch die gehobene Gesellschaft lebt eher in einer Spiegelwelt, die Spiegel stehen in beiden Zimmern immer bereit. Sie werden als Durchgänge in andere Welten, aber auch zur nonverbalen Kommunikation zwischen Myschkin und Nastassja Filippowna genutzt. Eigentlich ist die ganze Inszenierung mehr artifizielle Performance als Theater, da werden Handlungen seriell überhöht, die Frauen widmen sich zwischendurch dem Ballettbalken, da wird Saft elektrisch gepresst, niemand scheint alle Tassen im Schrank zu haben. Ellen Günther als Verwandte Myschkins läßt sich endlos leere Tassen mit Silberlöffel geben, sie läßt sie mit zittriger Hand wie ein kleines Kind klingeln, erstarrt, wenn man ihr das Instrument wegnimmt. Doch der Traum vom Glücklichsein findet wohl nur hinter den Spiegeln statt. Nur der Idiot ist im Innern seiner Seele normal. Und ständig dröhnt die Musikspur, es ist selbst als Zuschauer zum Irre werden, trotz der surrealen Bilder auf der Bühne.
Und so kommt es wie es kommen muss: Nora Buzalka als abgebrühte Nastassja Filippowna kann sich nicht zwischen Mammon und Glück entscheiden. Der Fürst kann mit seiner aufrichtigen Ehrlichkeit nicht den Reigen der Geier durchbrechen. Trotz aller Exzesse zwischen Geld verbrennen, Fäkaldramen und Pinkelattacken, am Ende wird Rogoschin die Kurtisane erstechen, mit Fürst Myschkin die Kreuzanhänger tauschen und dann in einem Erdloch die Totenwache halten. Allein diese Szene dehnt sich bis zur Erschöpfung aller im großen Oberhausener Haus, die 240-Minuten-Struktur der Bilder löst sich auf, von Dostojewskis schönen Menschenmonstern ist nichts mehr übrig. Die Agenten des Theaters dürfen nach Hause. Myschkin ist wieder reif fürs Sanatotium. Andrij Zholdaks Version sollte man auf keinen Fall verpassen.
"Der Idiot“ nach einem Roman von Fjodor Dostojewski I R: Andrij Zholdak I Theater Oberhausen Fr 10.6., Fr 17.6., 18.6. je 19.30 Uhr I 0208 857 81 84
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