Welcher Ort ist besser geeignet für einen feierlichen Festivalauftakt als die altehrwürdige Essener Lichtburg? Dieser Saal steht für gleich mehrere Kultursparten, die sich aktuell in der Krise befinden. Das Traditionskino ist auch als Bühne für Konzerte und Lesungen bekannt; viele Prominente haben ihre Handabdrücke im „Blauen Salon“ hinterlassen. Zum Auftakt der diesjährigen Lit.Ruhr blickt man von der Bühne endlich wieder auf einen voll besetzten Saal. Zu verdanken ist dies Joachim Meyerhoff, einem sicheren Gratwanderer zwischen Schauspiel und Literatur. Leider schmücken sich große Publikums-Festivals zumeist mit allseits bekannten Schauspiel- (am liebsten TV-)Gesichtern, statt auf die Strahlkraft zeitgenössischer Autor:innen und ihrer Texte zu bauen. Da ist auch die Lit.Ruhr keine Ausnahme – doch glücklicherweise kann Meyerhoff beides bieten: Einen bekannten Namen und literarisches Können. Hinzu kommen eine einnehmende Bühnenpräsenz und ein sicheres Gespür für Pointen.
Ungastliches Berlin
Die Sorge, dass die Eröffnung des Festivals mit langatmigen Reden starten würde, ist unberechtigt: Tobias Bock und Angela Furtkamp als Verantwortliche für das Programm der Lit.Ruhr und der mindestens ebenso wichtigen lit.kid zählen zwar Sponsoren und Partner auf, heben Kooperationen und einzelne Programmpunkte hervor, doch überraschend schnell überlassen sie die Bühne demjenigen, für den an diesem Abend rund 1.200 Menschen gekommen sind.
Joachim Meyerhoff erzählt, wie vor etlichen Jahren aus einem Bühnenprogramm, das nie für eine Veröffentlichung zwischen Buchdeckeln gedacht war, erst einer und mittlerweile fünf autofiktionale Romane wurden. Fast entschuldigt er sich dafür, dass das heutige Publikum ein Testpublikum für komplett neue Texte ist. Ob aus dem Manuskript je ein Buch wird, sei noch nicht entschieden. Meyerhoff geht auf die aktuelle Situation ein, seine gesundheitliche nach dem Schlaganfall im Jahr 2018 ebenso wie die persönliche, von Lockdown und Krieg im künstlerischen Schaffen gebremst zu sein. Und schon ist er mitten in seinem Text, der zunächst in seine neue Heimat Berlin führt, wo er als nächtlicher Radfahrer auf dem Gehweg eine unangenehme Begegnung hat, die erst im Schreiben darüber und vor allem im vorzüglichen Vortrag Meyerhoffs ihre komische Wirkung entfaltet. Eine absurde Begegnung, die eines Daniil Charms würdig wäre.
Allzu lebendige Hunde
Weil Berlin so ungastlich ist, zieht es den Erzähler trost- und erholungssuchend in die Norddeutsche Heimat zur Mutter. Was folgt, ist eine einzigartige Liebeserklärung an die vitale Mitt-Achtzigerin mit all ihren Schrullen. Meyerhoff beweist ein ums andere Mal, dass er das Handwerk beherrscht, Texte auf Pointen hin aufzubauen und dann noch weiterzuschrauben, das Gekicher des Publikums in wahre Lachsalven zu steigern. Dabei ist die „Rahmenhandlung“ seines Textes unverkennbar im Heute angesiedelt: Energiekrise, die wirtschaftliche Lage im Großen wie im Kleinen oder auch Rassismus sind in Nebensätzen wahrzunehmen, bilden den Hintergrund seiner Szenen wie einausgefeiltes Bühnenbild. Und in tatsächlichen Bühnenbildern spielen die kürzeren Episoden aus der Theaterwelt, die Meyerhoff nun einstreut: Unter dem norddeutschen Sternenhimmel ist ihm der Gedanke gekommen, sich der unterschätzten literarischen Form der Anekdote zu widmen. Und diese Anekdoten von allzu lebendigen Hunden auf der Bühne, katastrophalen Texthängern oder der echten Anstrengung eines gespielten Suizids durch Masturbation sind ein Feuerwerk an Witz und Tragikomik. Wenn aus „Scham und Bühne“ nicht Meyerhoffs sechstes Buch wird, ist dem Lektorat von Kiepenheuer auch nicht mehr zu helfen. Das Essener Testpublikum jedenfalls hat Meyerhoff restlos überzeugt.
lit.Ruhr 2022 | bis 23.10. | div. Orte in Bochum, Essen, Gelsenkirchen und Oberhausen | lit.ruhr
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Sprachloser Aufbruch
Philosoph Wolfram Eilenberger auf der Lit.Ruhr – Literatur 10/24
Festival der Worte
Siebte Ausgabe der lit.Ruhr– Literatur 10/23
Von den Bergwerken zum Mond
Matthias Brandt und Cornelia Funke auf Lit.Ruhr – Festival 10/22
Lokalkolorit und Aufbruch
lit.Ruhr in Bochum, Essen, Gelsenkirchen und Oberhausen – Festival 10/22
Faustisches Lit.Ruhr-Finale
Mensch gegen Maschine: Frank Schätzing inszeniert am 14.10. KI-Bestseller – Literatur 10/18
Abstieg des Westens?
Ex-Außenminister Joschka Fischer belehrt auf Zollverein Lit.Ruhr-Publikum – Literatur 10/18
Am Strand von Bochum
lit.Ruhr 2018 – das Besondere 10/18
Kein Abklatsch
Die erste lit.Ruhr – das Besondere 09/17
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24