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Nadja Robiné (Medea), Stephan Ullrich (Jason)
Foto: Thomas Aurin

Kunsträuber und Kindsmörderin

01. November 2010

Das Schauspielhaus Bochum zeigt eine faszinierende „Medea“-Adaption - Theater Ruhr 11/10

Ein gelbes Band sperrt den Tatort ab. Menschen hasten vorüber und sichern Indizien, Fotos werden gemacht, auf dem Boden die Umrisszeichnungen zweier Kinderkörper. Es herrscht das Schweigen beruflicher Professionalität. Eine Frau hat ihre beiden Kinder und die Geliebte ihres Mannes umgebracht. Die Täterin Medea, ihre Anwältin, ein Gerichtspsychologe, Journalisten sowie ihr Ex-Mann Jason sind vor Ort. Ein Alltagsdrama, ein mythisches Drama.

Die „Medea“-Inszenierung von Fadhel Jaedi beginnt mit einer verblüffenden Umkehrung. Wo der Mythos sich Urbilder unbegreiflicher Geschehen im kulturellen Gedächtnis aufruft, geht es in den Bochumer Kammerspielen um eine Rückführung ins Konkrete. Jaibi und seine Koautorin Jalila Baccar überschreiben Euripides’ „Medea“-Text mit deutlichen Verweisen auf das Hier und Jetzt und liefern die Vorgeschichte zum Kindsmord. Und wie es sich für einen Kriminalfall gehört, führt der libanesische Regisseur einen Richter bzw. Kommissar ein, der den Fall rekonstruiert und ihm so einen Rest an Unerklärbarkeit bewahrt.

„Medea“ wird zur Recherche, die im Wechsel aktuelle Tat-Befragung und Rückblenden ins Vergangene verschneidet. Der Ausgangspunkt des Dramas ist Anatolien, wo Medeas reiche Familie eine bedeutsame Handschrift aufbewahrt, die der Kunsträuber Jason stehlen will. Die draufgängerisch-neugierige Medea der Nadja Robiné verliebt sich in den zwielichtigen Windhund (Stephan Ulrich), hilft beim Raub sowie der Zerstückelung des eigenen Bruders und flieht mit dem Dieb.

So brutal das Geschehen, so geschickt tariert Jaedi es mit Komik aus. Da lamentieren Medeas Verwandte laut über geklaute Lastwagen und „griechische Arschlöcher“. Matthias Redlhammer wiederum glänzt als vorgeblich begriffsstutziger Richter mit Hütchen sowie als brutaler und kulturbeflissener Mafiapate, der Jason den Auftrag zum Handschriftenklau gegeben hat. Verblüffend an Jaibis Verfahren ist, dass es das mythische Geschehen nicht mit Detailrealismus verkleinert, sondern Shakespearsche Wucht mit Brechtscher Analytik vereint. Dazu trägt das coole betongraue Kabinett mit schwarzen Sitzbänken (Bühne: Kays Rostom) genauso bei wie die eleganten schwarzen Kostüme von Gerhard Grollnhofer. Sie betonen das streng Exemplarische in Medeas gewöhnlichem Migrantenschicksal mit drei Jahren Putzjobs, einem an Kindern desinteressierten Mann („Du wirst es ausscheißen, dein Gör!“) und einer Hinwendung zum Islam mit Koran und Kopftuch. Medea bleibt eine Fremde und reagiert mit einer regressiven Rückbesinnung, die weit über ihre bürgerliche Herkunft hinausgeht. Doch auch Jason bleibt unverortet in der Mafiagesellschaft mit Pool und Päderastenkillern, sein Verhältnis mit Kreons Tochter Kreusa (Mandana Mansouri) entspringt schierem Karrieredenken. Was bleibt, ist die Katastrophe. Am Ende übernehmen die Verse des Euripides wieder die Regie, das Drama kehrt ins mythische Fahrwasser zurück. Ein bewegender Abend, der zu Recht mit Ovationen gefeiert wurde.


HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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