Gegen das Carmen-Klischee gibt es kaum ein Mittel. Georges Bizets berühmte Oper mit ihren Hits kennt jeder und ihre Titelfigur ist längst zur kitschigen Allegorie
männerfressender weiblicher Erotik verkommen. Regisseur Joan Anton Rechi bemüht sich nun in Oberhausen, „Carmen“ auf seine drastisch-realistischen Ursprünge zurückzuführen, die in der literarischen Vorlage, teilweise auch in der Oper, vorhanden sind – indem er allerdings weitgehend neue Klischees bedient.
Ein hoch aufragender Zellenblock mit einer am Sockel umlaufenden Bartheke auf Metalltonnen, die Graffiti an den Wänden, die vergitterten Nischen im Hintergrund (Bühne: Alfons Flores) beschwören eine Welt, in der Gefangensein mehr bedeutet, als im Knast zu sitzen. Es sind vor allem Asoziale, Kleinkriminelle und Kleinbürger, die diese Welt bevölkern. Unter ihnen der elegante Kommissar Zuniga (Torsten
Bauer) als Abziehbild eines Bad Lieutenant zwischen Gesetz und Verbrechen, der mal brutal, mal sentimental reagiert. Dass er Carmen verhaftet und seinem Gehilfen José übergibt, erweist sich als Fehler, denn der Assistent verliebt sich in sie und lässt sie wieder laufen.
Verblüffenderweise führen an diesem Abend gerade Erotik oder Anziehungskraft ein Schattendasein. Die Carmen der Nora Buzalka räkelt sich zwar anfangs lasziv auf der Theke, dann an den Gefängnisgittern, stolziert später im kurzen Rock umher, doch letztlich bleibt die Liebe vor allem eine Behauptung, die zwischen den Figuren nicht ausagiert, sondern vor allem ausgesprochen und verhandelt wird. Was Carmen an José findet, bleibt zudem unerfindlich, weil Peter Waros ihn als blasses
Jüngelchen mit Lederjacke und Jeans spielt. Dass die beiden später Zuniga brutal zerstückeln, wirkt aufgesetzt und erinnert an Filme Tarantinos, um so mehr als der Kommissar später als Untoter umherspaziert.
Die Oberhausener „Carmen“ hat ihr größtes Verdienst in der musikalische Adaption durch Otto Beatus, der Themen und Motive Bizets frei verarbeitet. Von Jazz über Chanson bis zur Geräuschuntermalung reicht dabei die Palette. Der Pferdefuß: Die deutschen Liedtexte, wie auch die Dialoge der Figuren, kommen über einfachstes Musicalniveau nicht hinaus. Es rächt sich, dass Rechi das Stück auf seine Hauptfiguren reduziert hat, denn den Figuren fehlt so das soziale, aber auch das psychologische Unterfutter. Josés Ex-Geliebte Micaela muss unter dem Dirndl die Korsage zeigen, der Eifersuchtsanlass Escamillo wirkt wie eine Mischung aus französischem Intellektuellem und Spanienenthusiast. Wie man mit dem Klischee spielen kann, zeigt am ehesten noch Anja Schweitzer als Barchefin Lilla Pastia mit milvaroter Haarmähne. Sie hat das Herz des Lovers, der sie verletzt hat, in Formaldehyd auf der Theke stehen und singt mit ihrem Mezzosopran herzergreifende Einsamkeitssongs in Ingrid-Caven-Manier.
„Carmen“ nach George Bizet
R: Joan Anton Rechi
Theater Oberhausen
Fr 1.4. 19.30 Uhr
Mi 13.4. 19.30 Uhr
0208 857 81 84
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