Das 1904 eröffnete Theater Dortmund zählt mit über 500 Mitarbeitern zu den größten Theatern Deutschlands. Das Schauspiel zog 1968 in das umgebaute Opernhaus am Hiltropwall und wird seit 2010 von Kay Voges geleitet.
Der wahrhaftige Spiegel der Gesellschaft beginnt im Dortmunder Theater mit dem Rush der ZuschauerInnen in die kleine Studiobühne. Warten auf der Treppe nach ganz oben. Argwöhnische Verteidigung lang erstandener Startpositionen und dann der wiederholte Blick auf die orangene Karte: Ja doch - Freie Platzwahl. Da! Es geht los. Ältere Herrschaften werden zu Furien für die Pole-Position. Stoßen, rempeln, quetschen. Die erste Kurve entscheidet eben – wie auf dem Nürburgring. Hier durch die Tür, hastig noch mal um die dunkle Ecke. Vielleicht ein keckes Überholmanöver durch Rufen: Ilse, hältst du mir was frei? Dann endlich wieder Licht – und ein großer runder schwarzer Tisch rollt auf die in Führung liegenden Menschen zu, blockiert den Durchgang vor der ersten Reihe. Erstaunte Blicke. Da greift der Schauspieler in die freie Platzwahl ein?
„Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ heißt die Komödie des Abends. Ein älterer Bühnen-Renner (2006) von Theresia Walser, aber wenn das Theater über drei passende Mimen verfügt, dann ist jedes Mal der Lachmuskel in Gefahr. Der „macht dann zu“ heißt das wohl heute, immer ist Zerrung und Riss vorprogrammiert. In Dortmund ist das nicht anders. Drei Schauspieler warten dort auf ihren großen Auftritt bei einer Podiumsdiskussion. Alle drei hochspezialisiert auf Nazigrößen. Der berühmte Franz Prächtel und der bekannte Peter Soest. Beide haben einst Hitler gespielt. Die junge Ulli Lerch allerdings „nur“ Goebbels und das noch in einer zeitgenössischen Inszenierung. Das Drama liegt in also in der Luft, die Mimen gehen pseudoretrokostümiert in Stellung: Altstar gegen Revoluzzer, der Mittler ein obskurer Opportunist, der zwischen Buckeln und Selbstaufgabe immer auch seine Mittelmäßigkeit verteidigt.
Das 1904 eröffnete Theater Dortmund zählt mit über 500 Mitarbeitern zu den größten Theatern Deutschlands. Das Schauspiel zog 1968 in das umgebaute Opernhaus am Hiltropwall und wird seit 2010 von Kay Voges geleitet.
Kommen wir zu den Protagonisten. Uwe Rohbeck ist Franz Prächtel, der, der alles schon gespielt, den kein Regisseur mehr lenken kann. „Prächtel, du bist ein Theatergott“ möchte man rufen, doch die stoische Mimik einer dauernden Hitler-Fratze lässt einen stocken. Welches Monster Rohbeck auch immer spielt, das Untier schwitzt aus seinen Gesichtsmuskeln, selbst wenn er bewegungslos scheint. Der Führer inspiziert hier nicht mehr den Führerbunker, sondern bereits das Diskussionspodium: ein schwarzer runder Tisch auf Rollen, darüber ein weißer Ring aus Neon (Bühne: Susanne Priebs). Von der Decke hängt wohl eine winzige goldene Glocke, deren wahre Bedeutung sich erst spät erschließt. Ab und an rennen Bühnenarbeiter durchs Bild, klar, noch hat die Diskussion nicht begonnen, kein Moderator in Sicht, also plaudert man sich wie in der Kantine gegenseitig das Blaue vom Himmel, ätzt über Kollegen, über mögliche Provinztheater zwischen Ingolstadt und Göttingen und natürlich Regisseure. Franz Prächtel ist längst angewidert vom Theaterbetrieb, ein Besserwisser mit Basiswissen, dem sein tuntiger Kontrahent bei der Hitler-Rolle (Ekkehard Freye) kaum das Wasser reichen kann und will, denn Prächtel kräht ständig nach Leitungswasser ohne Bläschen. Aber Peter Soest ist notgedrungen Fan und tut das auch kund. Anfangs denken die beiden Herren noch, auch Ulli Lerch (Alexandra Sinelnikova) hätte den „Führer“ gespielt, doch schnell wird klar, die hat „nur“ Goebbels im Film gemimt. Aber das verteidigt die Schauspielerin vehement und mit viel weiblicher Präsenz im Hakenkreuz-Latex-Outfit. Den postmodernen Umgang mit Geschichte und dieses neue Regie-Geschwuchtel lehnt das Herrenduo natürlich ab.
Regisseur Thorsten Bihegue macht aus der Walser-Geschichte eine Mischung aus mimischer Groteske über den Schauspielerberuf und gleichzeitig auch stiller Persiflage über den gesamten Theaterbetrieb und seine menschlichen Abgründe.
Die eigentliche Frage, ob die Beschäftigung mit NS-Größen den Menschen verändert, beantwortet eigentlich nur Uwe Rohbeck. Seine andauernder stechender Hitler-Blick ist zur Manie geworden, das Feldherrengehabe inklusive. Sein Prächtel legt die weiße Führerrobe nur ungern ab. Er braucht weder Regie, noch Applaus. Doch der Beruf wird zur Mangelerscheinung, wenn er nicht ausgeübt werden kann. Das Chaos lugt um die Ecke, das Licht zittert, die vierte Wand wird beschworen und die immer wichtiger werdende Soundspur in den Inszenierungen. Schließlich will niemand was drunter gelegt bekommen. Wer sich noch vor dem Urlaub etwas Gutes tun will, der sollte unbedingt versuchen, im Juli noch ins Dortmunder Studio zu gelangen. Als Erster natürlich!
„Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ | R:Thorsten Bihegue | Sa 7.7. 20 Uhr, WA im Herbst | Theater Dortmund | 0231 502 72 22
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