„Es gibt keinen Hauptfilm – der Projektor ist abgebrannt.“ Doch zumindest die Tonspur ist unversehrt und kommt im Kaffeehaus an der Kaiserstraße ausgiebig zum Zuge: „This is the end; hold your breath and count to ten“ – sofort dürfte einigen der über 50 Gäste an diesem Morgen die eine oder andere Szene aus dem Bond-Klassiker „Skyfall“ vor Augen schweben. Der Projektor ist nun im Kopf des Rezipienten und wird mit einem filmmusikalischen Querschnitt der Kinogeschichte gespeist. Mit viel Herz und Stimme zaubert die Kölner Schauspielerin und Chansonsängerin Sabine Paas das cineastische Flair vergangener Jahrzehnte auf die virtuelle Leinwand im Café Schrader.
„Hüte dich, deine Feinde zu hassen – das trübt dein Urteilsvermögen“, tönt es plötzlich von der Seite. Es ist nicht „Der Pate“, sondern die Stimme von Ralf Gscheidle, der seine Bühnenpartnerin virtuos auf dem Akkordeon begleitet und trocken immer wieder Filmzitate einstreut, die neue Kopfkinobilder erzeugen. Auch Mehrsprachigkeit gehört zum Konzept der Darbietung: „Si tu n'étais pas-là – comment pourrais-je vivre?“ Die fabelhafte Welt der Amélie blitzt auf und jeder mag wohl für einen Wimpernschlag sein eigenes ‚Du‘ vor Augen haben, ohne das ein Leben nicht vorstellbar ist oder irgendwann einmal war. Zwischen Liebe und Hass pendelt die emotionale Achterbahnfahrt, die durch selbst generierte Kinobilder größere Höhen und Tiefen kennen dürfte als jeder Film, dessen Drehbuch nicht im eigenen Kopf entstanden ist.
„Der Weltraum – unendliche Weiten“: Die das Raumschiff Enterprise vor dem geistigen Auge begleitende Sphärenmusik kann als endloses System begriffen werden, das nicht nur dem (musikalischen) Universum Struktur gibt – evoziert sie doch auf der Folie der unbebilderten Tonspur immer neue assoziative Dimensionen. Diese lenken den inneren Blick nach der Pause jedoch wieder zurück auf das Hier und Jetzt, wo seit dem Vietnamkriegsmusical „Hair“ immer noch auf den Beginn der friedvollen Ära des Wassermanns gewartet wird. Da man des irdischen Friedens wohl ewig harren muss, scheint es geboten, sich zumindest die Maxime aus „Schindlers Liste“ zueigen zu machen: „Wer nur einem einzigen Menschen das Leben gerettet hat, wird belohnt werden, als hätte er die ganze Welt gerettet.“
Diese und andere Passagen berühren das Herz und entlocken Kinogängern immer wieder Tränen – wie etwa die Marsaillaise-Szene in Casablanca. „Die Tränen im Kino sind herpeszartbitter“, resümiert Sabine Paas. Und sie werden oft mehr oder weniger gut versteckt – denn: „Weinen in der Öffentlichkeit – das ist wie nackt sein.“ Daher vielleicht sehe man im Trailer stets „die heiteren Szenen“. Doch neben Unterhaltung und Horizonterweiterung gehört eben auch der ‚emotionale Kick‘ zu den Hauptmotiven des Kinogängers. Und die emotionale Zerrissenheit scheint als ‚condition humaine‘ verstanden werden zu müssen – getreu dem Chanson-Refrain von Marlene Dietrich: „Wenn ich mir was wünschen dürfte, käm ich in Verlegenheit – […] eine schlimme oder gute Zeit.“ Selbst wenn der Film gut endet, heißt es – wie im wirklichen Leben – am Ende doch Abschied nehmen: „Schön sind die Hummer und die Austern anzusehn – aber nach dem Happy End, da muss man gehn.“ So lehnt man sich dann seufzend im Kopfkinosessel zurück und lässt zumindest den Trailer noch einmal Revue passieren. Und wenn man Glück hat, läuft zum Abspann „Always look on the bright side of life.“ Die Kopfkino-Gäste jedenfalls singen selig mit.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Alte Musik in Köln
ZAMUS bringt es auf den Punkt – Klassik am Rhein 04/19
Schleicher, Kriecher, Gassenhauer
Das Kölner Fest für Alte Musik präsentiert Greatest Hits – Klassik am Rhein 03/17
Passionen, Klagen, Leidenschaft
Auch der Saal macht die Musik – Klassik am Rhein 03/15
Wahn, Taumel, Verführung
Die Alte Musik feiert Carnaval – Klassik in NRW 02/14
Pessimistische Gewürzmädchen
Maustetytöt im Düsseldorfer Zakk – Musik 11/24
Komm, süßer Tod
„Fauré Requiem“ in der Historischen Stadthalle Wuppertal – Musik 11/24
Konfettiregen statt Trauerflor
Sum41 feiern Jubiläum und Abschied in Dortmund – Musik 11/24
Erste Regel: Kein Arschloch sein
Frank Turner & The Sleeping Souls in Oberhausen – Musik 10/24
Eine ganz eigene Kunstform
Bob Dylan in der Düsseldorfer Mitsubishi Electric Halle – Musik 10/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Matrix Bochum – Musik 10/24
Sich dem Text ausliefern
Bonnie ,Prince‘ Billy in der Essener Lichtburg – Musik 10/24
Improvisationsvergnügen
Das Wolfgang Schmidtke Orchestra in der Immanuelskirche – Musik 09/24
Essen-Werden auf links drehen
Cordovas im JuBB – Musik 09/24
Rock ‘n‘ Roll ohne Schnickschnack
Gene Simmons und Andy Brings in der Turbinenhalle Oberhausen – Musik 08/24
Vielfalt, Frieden und Respekt
3. Ausgabe von Shalom-Musik.Koeln – Musik 07/24
Die Ruhe im Chaos
Emma Ruth Rundle in Bochum und Köln – Musik 07/24
Musikalische Feier
Markus Stockhausen Group im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden – Musik 07/24
Verzauberung des Alltags
The Düsseldorf Düsterboys in Essen – Musik 07/24
Brachialromantik im Tempel
Qntal in Oberhausen – Musik 07/24
Von Roskilde nach Dortmund
Blasmusiker LaBrassBanda in Dortmund – Musik 06/24
Die Tarantel hat immer noch Biss
Tito & Tarantula in Dortmund – Musik 06/24
Doppelkonzert der Extraklasse
Ghost Woman und Suzan Köcher Duo in Düsseldorf – Musik 06/24
Eine Extraschicht Kultur
Festival Extraschicht 2024 im Ruhrgebiet – Musik 05/24
Mehr Wut, bitte!
Wilhelmine begeisterte in Bochum – Musik 05/24
„Erstarrte Konzertrituale aufbrechen“
Interview mit dem Direktor des Dortmunder Festivals Klangvokal, Torsten Mosgraber – Interview 05/24