Berlin hat als Hauptstadt der Bundesrepublik versagt, eine Peinlichkeit folgt der nächsten und neben arm ist man schon lange nicht mehr sexy. Eine Alternative muss her, und weil für derart weit reichende Entscheidungen wie die nochmalige Verlegung der Hauptstadt selbstverständlich Experten befragt werden müssen, wendet sich der Sozialwissenschaftler John Fettersen im Auftrag der Bundesregierung an niemand geringeren als Mia Mittelkötter, um sich über die Verhältnisse im Ruhrgebiet ein profundes Bild zu verschaffen. Die ausgewiesene Kennerin der Region und ihrer Bewohner lebt zwar mittlerweile im Sauerland, doch die Anfrage von Fettersen nimmt sie gerne zum Anlass, das Revier auf ihre ganz eigene Art unter die Lupe zu nehmen.
trailer als Geburtshelfer
Zugegeben, der Prolog von „In der Ruhr liegt die Kraft“ klingt ein wenig unbeholfen, vielleicht hätte sich das Autorenteam da noch etwas Mühe geben können, doch ganz offensichtlich ging es ihm nur darum, einen möglichst schnellen Einstieg in einen Briefwechsel der besonderen Art zu finden. Da ist der ganz reale Einstieg in die Kooperation von Lutz Debus und Lioba Albus viel flüssiger gelaufen, wie trailer-Autor Lutz Debus schildert: „Vor einiger Zeit habe ich Lioba Albus als Autorin für den trailer gewinnen können, und ich war jedesmal hin und weg von den Texten, die sie uns geschickt hat. Und irgendwann habe ich ihr einen Brief geschrieben: Liebe Frau Albus, Sie müssen unbedingt mal ein Buch schreiben. Die Antwort, die dann prompt kam, lautete: ‚Aber nur mit Dir…‘“ Diese vehemente Forderung erklärt Lioba Albus so: „Als Solo-Kabarettistin stehe ich ja immer nur alleine auf der Bühne und ich schreibe auch meine Texte alleine. Deshalb wollte ich das Experiment eingehen, wie gemeinsames Schreiben aussehen könnte. Schnell lag dann die Idee nahe, einen Roman in Form eines Briefwechsels zu schreiben.“
Für den Briefroman lässt das Autorenpaar niemand geringeren als Mia Mittelkötter von der Bühne ins reale Leben hinabsteigen. „Liobas Bühnen-Alter Ego Mia Mittelkötter wollten wir gerne aufgreifen und so reifte die Idee, dass ein Wissenschaftler Mia zum Ruhrgebiet befragt“, erläutert Debus. „Viel Lokalkolorit haben wir dabei angestrebt, wir wollten das Revier auf unsere spezielle Weise portraitieren. Dass sich dann aus dem Briefwechsel eine Liebesgeschichte entwickeln sollte, war am Anfang kaum zu ahnen…“ „Aber weil Mia eh davon ausgeht, dass sich jeder Mann zwangsläufig in sie verliebt, war es vielleicht doch unausweichlich“, unterbricht Albus.
Fleisch an den Leib
Im Gegensatz zu vielen Briefromanen sind die einzelnen Briefe nicht datiert, die Leser müssen sich selbst in den zeitlichen Ablauf einfühlen. „Wir haben zwar keine konkreten Daten vorgegeben, aber kleine Hinweise finden sich dann ja doch. Im Vorspann ist von Schneeflocken die Rede und das Finale findet während eines Bundesliga-Endspiels statt. Also beträgt die Zeitspanne ungefähr ein halbes Jahr“, erläutern die beiden. Viel mehr als eine zeitliche Konkretisierung stand dann auch das Spiel der beiden Briefeschreiber untereinander im Vordergrund. Und nicht nur die Interaktion zwischen den Schreibenden, auch die neue Dimension einer eigentlich bekannten Figur gestaltete sich für die Schreiber reizvoll, wie Lioba Albus erläutert: „Ich kenne die Figur Mia Mittelkötter mittlerweile so gut. Doch durch die Briefe gewinnt sie natürlich noch eine weitere Ebene hinzu. Ich wollte ihr sozusagen Fleisch an den Leib schreiben. Es war eine spannende Herausforderung, der Bühnenfigur neue Facetten zu entlocken.“ Wie sich die Geschichte entwickeln würde, war keinesfalls von Beginn an festgelegt. „Ich habe früher Kreatives Schreiben unterrichtet“, erläutert Debus, „und in gewisser Weise hat die Zusammenarbeit wie ein Schreibspiel funktioniert, sehr ergebnisoffen. Es war eigentlich nur klar, dass wir mit dem Buch politische Satire machen wollten.“ Dabei war Debus in der Rolle des John Fettersen stets der Impulsgeber, der mit seinen Fragen an Mia neue Themenkreise anschnitt. Über einen Zeitraum von nahezu zwei Monaten schrieben die beiden sich fast täglich. „Wenn ich von einem Auftritt nach Hause kam“, schildert Albus, „habe ich immer mit Spannung den neuen Brief erwartet. Und oft hat mich das dermaßen inspiriert, dass ich nicht umhin kam, sofort drauf zu antworten – sonst wäre das wieder kalt geworden. Da war es meist ganz egal, wie spät es wurde. Lutz führte wie beim Paartanz, darauf habe ich mich eingelassen. Selbstverständlich habe ich Mias Antworten auch genutzt, Lutz zu überraschen, ihn zu provozieren, um zu sehen, wie er sich in der neuen Situation zurechtfinden würde. Natürlich konnte er mich in eine Fallfigur bringen, aber ich allein entschied, ob ich auf den Boden falle.“ Auf die Frage, ob die Person des John Fettersen von Beginn an so skurril angelegt war oder sich erst im Dialog mit Mia Mittelkötter entwickelte, gesteht Debus unumwunden: „Der hat sich nicht so entwickelt, ich bin wirklich so ein komischer Typ“
Im Grillstudio Mayo and More
„In der Ruhr liegt die Kraft“ ist in keinem der bekannten Publikumsverlage erschienen, auch wenn man glauben könnte, dass es für eine aus dem TV bekannte Kabarettistin kein Problem sein dürfte, einen Verlag von dem Projekt zu überzeugen. Man entschied sich jedoch für einen anderen Weg: „Wir haben für das Buch speziell einen Verlag gegründet. Als es an die Überlegung ging, wo man das Buch veröffentlichen könnte, stießen wir schnell auf das Problem, dass Verlage heutzutage stets eine Kategorisierung vornehmen wollen. Genreübergreifende Projekte haben es da nicht so leicht. Also haben wir den FönNixe-Buchverlag gegründet, um solchen genreübergreifenden Projekten ein Forum zu bieten.“ Ihren Verlag wollen die beiden auch anderen Autoren öffnen – und dabei keinesfalls nur auf Satire setzen. „Natürlich würde uns freuen, wenn Autoren auf den Verlag aufmerksam werden und sich uns anvertrauen. Wenn wir dann lediglich auf Satire schielen würden, würden wir ja auch wieder Einschränkungen machen. Man sollte doch einem kreativen Menschen nicht durch solche Vorgaben Grenzen setzen. Ein zweites gemeinsames Projekt ist allerdings bereits in Arbeit und ich schreibe auch allein an etwas“, erläutert Albus die weiteren Pläne für den Verlag. Das Grundkonzept für das nächste Buchprojekt ist ein gänzlich anderes als in dem aktuellen Briefroman, obwohl wieder eine Bühnenfigur von Lioba Albus mitspielen wird. „Das neue Projekt spielt in der Malinckrodtstraße im Grillstudio Mayo and More. Hier, vor der Friteuse der Pommesschlampe Witta, treffen Vertreter der Weltreligionen aufeinander, um über Religion und den Sinn des Lebens zu philosophieren. Inwieweit Alkohol dabei eine größere Rolle spielen wird, ist noch unklar – aber die Vermutung liegt nahe, dass er im Laufe der Diskussion reichlich fließen wird. Von der Briefform zum Dialogischen, das ist wieder ein ganz anderes Schreiben.“ Statt Mails hin und her zu schreiben, trifft man sich nun regelmäßig und entwickelt die Dialoge, indem man sie sich gegenseitig vorspricht.
Doch zunächst steht das aktuelle Buch im Fokus: „Zur Vorstellung des Buches wird es auf jeden Fall szenische Lesungen geben, in denen wir in die Rollen von John und Mia schlüpfen werden“, kündigt Debus an, „Ich spiele auch Kontrabass und Gitarre – und vermutlich werden wir auch singen müssen.“ Auf die Parallele zu John angesprochen erläutert Debus: „Ja, ich spiele tatsächlich Kontrabass. Ich habe auch tatsächlich als Heranwachsender die Damen in der Linienstraße bewundern können. In meinem Part des Buches steckt insgesamt viel Autobiographisches.“ Dieses Geständnis entlockt seinem weiblichen Gegenpart ein sehr vehementes „Von meiner Seite nicht!!!“
Die Buchpräsentation findet in Dortmund statt, die Termine der anschließenden Lesereise standen zum Redaktionsschluss noch nicht fest. Ob es die beiden auch nach Gelsenkirchen führen wird, ist fraglich, schließlich hacken die beiden BVB-Anhänger in ihrem Roman doch arg auf dieser Stadt herum und Mia plädiert gar für die Einrichtung eines musealen „Revierparks Gelsenkirchen“. Falls es eine Lesung in Gelsenkirchen geben sollte, dann auf jeden Fall nicht im Stadion – „es sei denn, Steven Sloane spielt dazu auf“, schränkt Debus lachend ein.
Lioba Albus und Lutz Debus: „In der Ruhr liegt die Kraft“ I FönNixe Buchverlag, 144 Seiten, 11 Euro
Buchpräsentation am Mo 1.10. 20 Uhr im Cabaret Queue, Dortmund
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24