Wie quälend darf eine Aufführung sein, die von einem quälenden Ereignis berichtet? Die schwedisch-finnisch Theatergruppe An Institutet/Nya Rampen, die in Berlin produziert und deshalb beim Festival Impulse eingeladen war, nimmt sich den 2008 aufgedeckten Fall Josef Fritzl vor, der seine Tochter im Keller seines Hauses gefangen hielt und mit ihr mehrere Kinder zeugte. Die drei Stunden-Inszenierung „Conte d’amour“ vergegenwärtigt drastisch mit zum Teil unerträglichem szenischem Leerlauf die Situation der Einkerkerung.
In der Studiobühne Köln steht ein großer uneinsehbarer Würfel, eingefasst von einem niedrigen weißen Gartenzaun. Auf einem Absatz liegt ein Mann auf einem Sofa, liebkost lebensgroße Stoffpuppen, während auf einer Leinwand ein Betonmischer zu sehen ist – ein Hinweis auf Fritzls Tätigkeit bei einer Baustofffirma. Er füttert seine Begleiterinnen mit Cola und Chips und kriecht dann durch einen Wandschrank ins Innere des Würfels. Was dort vor sich geht, wird über Kameras auf die Außenwand des Würfels übertragen. An Institutet/Nya Rampen drängen den Zuschauer von Beginn an in die Rolle des Voyeurs, der beim Inzest im Big Brother Bunker hautnah dabei ist. Denn in dieser bedrohlichen Kaaba werden zugleich hermeneutische Kulturen angelegt, die Begriffe wie Familie (Fritzl sprach von seiner „zweiten Familie im Keller“) oder Liebe zum monströsen Blühen bringen.
Zunächst allerdings sieht man kaum etwas. Man hört das Klappern einer Aluleiter, der Lichtstrahl einer Taschenlampe stochert im Dunkel, ein Kind lacht, dazu dräuen elektronische Sounds (Musik: Andreas Catjar). Plötzlich geht das Licht in dem Verlies an und man sieht den Mann, genannt der Partriarch (Jakob Öhrman) im Kreise seiner Liebsten. Die Tochter, gespielt von Elmer Bäck im rosa Kleidchen, räkelt sich auf dem Sofa, einer der Söhne bedient die Kamera, der andere liegt mit Windel und Strumpfhose am Boden (Rasmus Slätis, Anders Carlsson). Die Kinder rufen „Welcome Daddy“ und werden mit Fastfood versorgt; man spielt Papi in Thailand, Kinderverse werden heruntergeleiert, die Tochter erzählt von Adam und der Erschaffung Evas. Trotz quälender Langeweile lastet über der Szene eine Atmosphäre latenter Bedrohung. Es wird mit Freud auf das Inzestverbot verwiesen, das aus dem Mord am despotischen Stammvater der Urhorde entstanden ist und nun mit dem Konzept der Exklusivität der romantischen Liebe kollidiert. Wie zur Beglaubigung singt die Tochter Joy Divisions „Love will tear us apart“ und später Chris Isaaks „Wicked Game“. Überflüssig und langweilig dann eine ironische Szene um Afrika, Kolonialismus und selbst ernannte Befreier, die darauf anspielt, dass Fritzl auch wegen Sklaverei angeklagt war. Zwar erlaubt die Gruppe den Zuschauern, zwischendurch rauszugehen, an der quälenden Länge ändert das wenig. Und doch kann man sich am Ende der Faszination dieses Abends nur schwer entziehen.
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