Am Niederrhein war die Welt am gestrigen Donnerstagvormittag noch in Ordnung. Ein paar Wölkchen und die gefühlt seit Wochen dauerpräsente schwüle Luft konnten die eigene Laune und die Vorfreude auf das 27. Bochum Total nicht schmälern. Auf dem Weg ins Ruhrgebiet dann der Wetterticker in Form von Radio, Facebook und Zugsprecherin: „In Bochum Wattenscheid liegt nach dem starken Platzregen ein Baum auf den Gleisen“ tönte es aus den Lautsprechern, und Bilder im Netz zeigten überflutete Straßen und Keller der Ruhrstadt. Mit dieser Vorgeschichte wirkt es in der Nachschau fast schon wie ein kleines Wunder, dass sich pünktlich zu den ersten Acts die Gewitterwolken brav verzogen. Der stets zur Festivalzeit angebetete Wettergott hatte Gnade walten lassen.
Kellner erwärmen das Publikum
Als kleines großes Aufwärmprogramm spielten die bayerischen Kellner um Frontmann und Namensgeber Matthias Kellner auf der WAZ-Bühne. Pünktlich um 17 Uhr erklangen die ersten Akkorde ihres teilakustischen Sets. Mit den bescheidenen Worten „Wir sind Kellner und wir machen hier ein bisschen Musik. Ich hoffe, ihr habt Lust darauf. Wir hätten Zeit“ begrüßte der auf Südpol Records beheimatete Vierer das noch etwas zurückhaltende Publikum. Grund für die Zurückhaltung war vielleicht der etwas verwirrende Bandname, oder die doch noch recht nachmittägliche Uhrzeit. An der Musik kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Kellner transportierten ihre zwischen Blues, erdigem Rock und Folk pendelnden Popsongs mit tiefster Leidenschaft und mit absoluter Authentizität. Zeitweise fühlte man sich an eine deutsche Version der amerikanischen Sister Hazel oder Counting Crows erinnert. Nur mit anderen Texten: „Viele Bands singen Lieder über Liebe. Wir denken: Es gibt schon genug Liebeslieder. Deswegen handelt der nächste Song von Dracula“.
Ortswechsel: Vor der 1LIVE-Bühne standen zur selben Zeit nicht nur ein Vielfaches an Menschen, auch das Publikum war um ein Vielfaches jünger. Der Grund: Mega! Mega! Als intelligenter Gute-Laune-Power-Pop angekündigt, entpuppten sich die Wahl-Berliner im Laufe ihres Sets als massenmobilisierende Passagiere des derzeit mit Hochgeschwindigkeit durch die Republik rasenden Zuges mit der Aufschrift „Kraftklub“. Party funktioniert also auch schon, wenn die Sonne noch scheint.
Zeit für ein wenig mehr Tiefgang: The Intersphere, eine 2006 in Mannheim geborene Band, zeigte ab 18.15 Uhr, warum sie schon zweimal bei Europas Festivalriesen Rock am Ring zu Gast waren. Ihr sehr komplexer, zeitweise durch elektronische Elemente unterstützter Rock wirkte mitunter progressiv und fast schon den Artrock streifend. Im nächsten Moment konnte er aber genauso gut ausbrechen und in eingängigen Melodien münden, die dann eher dem Indie und Punk zuzuordnen waren. Ein kleiner Streifzug durch die letzten 20 Jahre Rockgeschichte. Die nun recht wild durchmischte Meute vor der Pottmob-Bühne zeigte sich formbar. Bei den ruhigeren Stücken hielt sie inne, bei den krachigen Songs zeigte sie sich tanzwütig, und bei den seltenen animierenden Ansagen des Sängers klatschte sie folgsam im Takt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte man aus musikalischer wie stimmungstechnischer Sicht von einem geglückten Festivalauftakt sprechen. Und die Headliner standen noch aus.
Mit dem Sundowner in die Nacht
Die Wahl fiel schwer, so unterschiedlich sind die Crossover-Dauerbrenner 4Lynn, DSDS- Aussteiger Max Buskohl und der poetische Max Prosa. Letzterer, von der Fachpresse zum deutschen Bob Dylan gekürt, hatte es schwer, die Mehrzahl des Publikums vor der 1LIVE-Bühne zu versammeln. Dabei hielt er durchaus, was er versprach. Die Band um den Wahl-Berliner unterlegte die Songs stets mit einer folkig-poppigen Mixtur und Prosa selbst präsentierte sich und seine deutschen Texte einmal mehr immens verträumt. Kurze Pläusche mit dem Publikum verrieten: Für die einen wirkte die theatralische Performance ein wenig affektiert, für die textsicheren anderen stand dort zweifellos die authentische Zukunft deutscher Popmusik auf der Bühne. Ein polarisierendes Ende zum fast wolkenlosen Sonnenuntergang.
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