Wenn ein schwereres Verbrechen aufgeklärt wird, freut sich die Justiz und die Öffentlichkeit. Die Akte wird mit Erfolg geschlossen, die ÜbeltäterInnen sitzen hinter Schloss und Riegel und die Gesellschaft freut sich über mehr Sicherheit (wenn auch nur kurz), besonders wenn es um Gewaltverbrechen geht.
Was passiert nun, wenn ein Mann freiwillig 33 Morde gesteht, die auch tatsächlich stattgefunden haben aber unaufgeklärt blieben? Richtig. Die Justiz macht Purzelbäume vor Glück, weil sich auf einen Schlag 33 ungelöste Probleme lösen lassen, ohne dass es viel Arbeit macht. Der Mann hat gestanden! Dann wird das schon stimmen! Warum sollte er so etwas erfinden? Warum so eine ungeheuerliche Lüge? Um wahrgenommen zu werden? Um "Jemand" zu sein? Nein. Unmöglich!
Der Schwede Sture Bergwall hat 1992 genau das getan: 33 Morde gestanden, ohne auch nur in der Nähe der Tatorte gewesen zu sein. Er hat von den Verbrechen aus Zeitungsarchiven erfahren und sie sich dann zueigen gemacht, was von Justiz und Presse mit großem Hallo angenommen wurde und im Nachhinein, nachdem alles aufgeflogen war, eine heftige Diskussion um die schwedische Ermittlungsarbeit auslöste. Allzu bereitwillig hatte der ermittelnde Staatsanwalt die Angaben des in einer Psychiatrie lebenden Bergwall geglaubt und als Tatsachen weiterverkauft. Bergwall erzählte Jahre später dem Journalisten Hannes Rastam, er habe dies getan, um zu „einer wichtigen Person für die Ärzte und die anderen Insassen zu werden.“
Von der faszinierend-gruseligen Causa Sture Bergwall ausgehend, hat sich die Regisseurin Simina German mit dem Phänomen der Lüge auseinandersetzt. Schließlich lügen wir alle. Und zwar oft, statistisch betrachtet um die 200 Mal am Tag. Das ist deutlich mehr, als wir uns eingestehen wollen (Ist das schon die erste Lüge?). Doch wann wird aus einer Geschichte eine „wahre“ Lüge? Wo beginnt die bewusste Täuschung?
Die Performance „Mythomania“ wechselt zwischen Szenen, in denen das Ensemble (Johanna Wieking als Staatsanwältin, Pia Alena Wagner als Rastam und Sven Gey als Bergwall) Begebenheiten des Falls nachspielt und Szenen, in denen sie sich mit eigenem Namen dem Publikum vorstellen und Geschichten aus der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen.
Simina German hat mit den drei Darstellern und ihrem Musiker Yotam Schlezinger wunderbare Szenen erarbeitet, die mit einer großen Leichtigkeit und Natürlichkeit gespielt werden. Sie sind so gut in Form, dass vieles im besten Sinne spontan und improvisiert wirkt, so als würden sie es zum ersten Mal tun. Sie haben selbst offensichtlich sehr viel Spaß an diesem Abend. Das überträgt sich aufs Publikum, das sich besonders über eine glitzernde „Jan Böhmermann-Showeinlage“ freut und sich bereitwillig und vergnügt die Hucke volllügen lässt: „Ich bin Sven und wir hatten mal ein Krokodil im Keller.“ „Ich bin Johanna-Natascha (gelogen!) und ich habe rausgefunden, dass Kaugummis ihren Geschmack über Nacht aufladen.“ „Ich bin Pia und in meiner Familie sorgen heidnische Rituale für viel Zusammenhalt.“ So werden Kindheitserinnerungen aufgemotzt, so wird nicht nur die Geschichte, sondern mit ihr auch der Lügner interessanter. Zumindest ist das der Glaube, der hinter jeder dieser Lügen steckt.
Nun ist Theater ein Ort, der selten ohne das „so tun als ob “ auskommt. Doch SchauspielerInnen auf der Bühne wird das nicht als Lüge angekreidet, es ist ja ihr Beruf, etwas „darzustellen“, was nicht „ist“. Es ist gibt im klassischen Theater eine klare Verabredung: Die auf der Bühne „tun so als ob“ und als wäre das Publikum nicht da. Das Publikum tut ebenfalls so, als wäre es nicht da und glaubt den SchauspielerInnen für ca. 2 Stunden, dass sie jemand ganz anderes sind, als sie eigentlich sind.
Bei einer Performance verhält sich das in der Regel etwas anders. Die PerformerInnen gehen als sie selbst auf die Bühne, spielen bewusst keine Rolle, sondern verhandeln die Fragen und Inhalte des Abends mit und an sich selbst. Wenn sich wie in „Mythomania“ Schauspiel und Performance vermischen und sich diese Mischung auch noch um das Thema „Lüge“ dreht, ergibt sich ein interessantes Spannungsfeld zwischen Fiktion und Wahrheit. Es ist schade, dass sich daraus ergebende Fragen keinen Weg in die Inszenierung gefunden haben und die a prioris der Darstellenden Kunst selbst unhinterfragt blieben. Das hätte dem Abend etwas mehr Tiefe gegeben und aus einer schönen Inszenierung eine wirklich besondere gemacht.
„Mythomania“ | R.: Simina German | Weitere Termine: Fr. 27.5. 20 Uhr, Sa. 28.5. 20 Uhr
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