Bekanntlich schlagen die Bäume erst im Mai aus, in Cannes wird aber schon seit März kräftig ausgeteilt. Das mag am mediterranen Klima der Côte d’Azur liegen, vielleicht auch an einer frühlingsgefühlsbedingten Testosteronwallung der Alphahengste Thierry Frémaux und Ted Sarandos. Denn neben Selfies am Roten Teppich und exklusiven Presse-Screenings für JournalistInnen fällt auch Netflix in diesem Jahr an der Croisette aus.
Festivaldirektor Frémaux entschied, dass 2018 nur noch Filme im Wettbewerb laufen, die auch in französischen Kinos starten. Der Abstand zwischen Kinostart und Streaming-Verwertung muss laut französischem Recht aber mindestens 36 Monate betragen – und so lange wollte Ted Sarandos, Chief Content Officer von Netflix, nicht warten und zog beleidigt alle Netflix-Produktionen vom Festival zurück. Außer Konkurrenz oder in einer anderen Sektion? Nicht mit ihm. Aus cinephiler Sicht ist das ein Verlust, denn das Breivik-Biopic „Norway“ von Paul Greengrass, „Hold the Dark“ von Jeremy Saulnier und Alfonso Cuaróns „Roma“ werden wohl nie in einem Kino zu sehen sein. Das könnte auch für Orson Welles‘ unvollendeten „The Other Side of the Wind“ von 1972 mit John Huston, Peter Bogdanovich und Susan Strasberg gelten, für den Netflix 2016 die Rechte erwarb. Die aufwendig restaurierte Fassung sollte in Cannes Premiere feiern. Allerdings: Cannes ist ohnehin kein Publikumsfestival und uns bleibt immer noch der Stream.
Spannender ist der Konflikt wegen der grundlegenderen Frage, um die es eigentlich geht: Wer hat die Definitionsmacht darüber, was Kino ist? Hier stehen sich der US-amerikanische VoD-Anbieter und Cannes als Verfechter unterschiedlicher Auffassungen von Filmkultur gegenüber. Netflix kommt aus dem Land, das Film in erster Linie als massenkompatibles Konsumprodukt versteht. Cannes hingegen gilt als exklusiv und sogar elitär, ein Palm d‘Or-Gewinner muss nicht notwendig auch beim Publikum ankommen. Das Festival rühmt sich nicht zu Unrecht, Film als Kunstform gegen rein kommerzielle Marktmechanismen zu verteidigen. Andersherum wird seelenloser Glamour auch in Cannes nicht kleingeschrieben und Netflix‘ Eigenproduktionen können ein Hort für Innovation sein. Spielfilme wie Dee Rees „Mudbound“ oder Noah Baumbachs „The Meyerowitz Stories“ (der 2017 noch in Cannes lief) sind dafür ebenso Beweis wie die Netflix-Serien, die oft etwas genuin Filmisches haben. „Stranger Things“ feiert das Kino der 1970er/80er Jahre in jeder Einstellung und die Mystery-Serie „Dark“ wirkte als erste deutsche Produktion mal nicht wie ein „Tatort“ oder Fernsehspiel.
Dennoch: Für Netflix ist Film eine Kunstform, die auf dem heimischen Flatscreen oder gar dem Smartphone ebenso funktioniert wie auf der großen Leinwand. Aber der Streit um das Kino als Ort, für den Filme gemacht werden, wird nicht erst seit Erfindung von VHS und DVD geführt und diese Debatte ist nicht die letzte. Auch Amazon-Produktionen laufen auf Festivals und im Kino, Disney strebt eine eigene Streaming-Plattform an und es wird gemunkelt, sogar Facebook verfolge Streaming-Ambitionen. Wie sich die Kunstform, das Kulturgut und das Geschäftsmodell Kino entwickeln wird, bleibt spannend. Und immerhin haben wir als Publikum mit unseren Sehgewohnheiten da auch noch ein Wort mitzureden.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zwischen Helden- und Glückssuche
Die Kinotrends des Jahres – Vorspann 01/25
Besuchen Sie Europa
Die Studie Made in Europe und ihre Folgen – Vorspann 12/24
Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24
Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24
Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24
Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24
„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24
Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24
Der Kurzfilm im Rampenlicht
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024 – Vorspann 05/24
„Viel Spaß beim Film“
Vom Ende der Platzanweiser:innen – Vorspann 04/24
Was läuft im Kino?
Über die Programmierkunst echter und gespielter Helden – Vorspann 03/24
Prognose: Lachstürme
Die Komödie findet endlich ins Kino zurück – Vorspann 02/24
Schund und Vergnügen
„Guilty Christmas Pleasures: Weihnachtsfilme“ im Filmstudio Glückauf Essen – Foyer 12/24
„Das Ruhrgebietspublikum ist ehrlich und dankbar“
Oliver Flothkötter über „Glückauf – Film ab!“ und Kino im Ruhrgebiet – Interview 12/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Ruhrgebietsfilmgeschichte erleben
„Glückauf – Film ab!“ im Essener Ruhr Museum
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24