Ein tolles Jahr irgendwann in den 1930ern. Kultur wird groß geschrieben. Selbst in der bereits bräunlichen Provinz, wo der Musikverein Walhalla einen konzertanten Ring erwartet. Die Kneipen-Bühne in Wippelsdorf ist bereit für einen Wagnerabend, mitten darauf sitzt ein riesiger Operetten-Schwan. Pech für Adele Würmeling und Herwarth Moksch, die beiden sind trotz Auftrittsverbot durch die Nazis und nur aufgrund einer Fehlbuchung ihrer Agentur hier. Im Gasthof sitzt bereits die bäuerliche Hörerschaft, die nun nichts anderes erwartet als eine konzertante Version des Nibelungenrings, trotz des weißen Geflügels. Die zwei mimen also notgedrungen zwei Größen der deutschen Opernbühne, pressen ihre Gassenhauer ins Wagnersche Totaldrama.
„Männer umschwirr’n mich wie Sprotten die Gischt“. Adele Würmeling quält sich förmlich durch den ersten Ring-Abend mit Rheingold, während ihr Partner die Handlung ausladend deklamiert. Das ist alles höchstamüsant, auch durch das siebenköpfige Ensemble der Bochumer Symphoniker, die unter der Leitung von Harry Curtis die Berliner Salonära mit den Erfolgen von Ralph Benatzky, Friedrich Hollaender und Oscar Straus aufleben lassen, selbst wenn diese sich sicher dabei ein wenig unwohl gefühlt hätten. Es war der Auftakt für das Projekt „Die Wunde Wagner“, mit dem die Symphoniker insbesondere an die Künstler erinnerten, die in Deutschland nach 1933 keine Heimat mehr hatten. Geschrieben hat die musikalische Komödie "Mein lieber Schwan" Jan Demuth, lange Jahre Dramaturg im Bochumer Prinz Regent Theater. Gekonnt um den Schwan herum inszeniert hat Hausherrin Sibylle Broll-Pape, die es dabei durch schlichte Eleganz bei der Personenführung auch schafft, billiges Schenkelschlagen zu vermeiden. Anna Schäfer und Wolfram Boelzle schlagen sich dafür stimmlich hervorragend vor Walhalla Wippelsdorf, auch ein paar böse verbale Seitenhiebe auf die Nazis fehlen nicht. Die Komödie wird, wie könnte es anders sein am Ende, zum Drama. Die braunen Häscher haben den Schwindel durchschaut und warten gespannt in der Garderobe. Dunkel wird die Kneipen-Bühne. „Götterdämmerung“ in der Stille. Nur das Kratzen einer Grammophonnadel ist noch zu hören. Dann fallen zwei Schüsse.
„Mein lieber Schwan“ von Jan Demuth
R: Sibylle Broll-Pape
Fr 15.4., Sa 16.4., je 20 Uhr
Prinz Regent Theater Bochum
0234 77 11 17
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20
Donna Quichotta der Best Ager
„Linda“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/20
Spiegelei, Toast und Tier
„Das Reich der Tiere“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 12/19
Heute geht es auch ohne Brandbeschleuniger
„Biedermann und die Brandstifter“ in Essen – Theater Ruhr 11/19
Desinfiziert und doch tot
„Die Pest“ in Moers – Theater Ruhr 11/19
Wenn Datenberge erodiert sind
„Identität“ in Dortmund – Theater Ruhr 11/19
Biografisches Sightseeing
Babett Grube inszeniert „Alles ist wahr“ in Oberhausen – Theater Ruhr 11/19
Amouröse Programmierung
„Ein Sommernachtstraum“ am Theater Oberhausen – Theater Ruhr 07/19
Mit Drogen locker durchs Leben
Huxleys „Schöne neue Welt“ in Bochum – Theater Ruhr 07/19
Aufm Arbeitsamt wird gesabbert
„Willems wilde Welt“ von theater glassbooth – Theater Ruhr 07/19
Morden als Maloche
Harold Pinters „Der Stumme Diener“ in Essen – Theater Ruhr 06/19
Schaut wie die Kirschbäume fallen
„Der Kirschgarten“ in Essen – Theater Ruhr 06/19