Eine Spiegelwand beherrscht die Bühne. Die Spiegelwelt darin sind die Zuschauer, die nie ganz im Dunkel sitzen und damit zu Protagonisten in einem Spiel werden, das „Amphitryon“ heißt, aber eigentlich nur Mittel zum Zweck erscheint, die Wahrnehmung von Realität auf den Kopf zu stellen. Lisa Nielebock inszeniert Heinrich von Kleist in den Bochumer Kammerspielen. Ein Lustspiel nach Molière soll das sein, doch es ist die gruseligste Abrechnung mit dem menschlichen Dasein schlechthin. Lachen ja, aber worüber eigentlich? Da sitzen sie und freuen sich über den linkischen Blödmann Sosias, der angesichts einer bösartigen Täuschung mit seinem Ebenbild konfrontiert wird, da schmunzeln sie über einen steifen Amphitryon, der angesichts des nicht mehr begründbaren Selbst am Rande des Zusammenbruchs seiner Welt umherirrt. Götter aus dem Olymp waren es, die solch grausames Spiel trieben, diese niederträchtigen Mistkerle, die quer durch die Antike Persönlichkeiten stahlen, um sich unter den Menschen zu vergnügen, Halbgötter in die Welt setzten und blutige Zwiste ankurbelten. Zum Piepen. Ja, und wirklich komödiantisch, dumm nur, dass dieser Spiegel auf der Bühne genau die Zielgruppe beschreibt, auf die es die Mächtigen mit ihrem Wechselbalgspielen abgesehen haben. Oder sollte tatsächlich jemand denken, der olle Kleist hätte die zeitgenössische Spaßgesellschaft bereits während der Romantik erfunden?
Mit sechs ausgezeichneten Schauspielern schafft es die Regie, diesen Zustand der gespiegelten Welt aufrecht zu halten, ab und an wird die Wand mal gedreht, man sieht die rohe Realität dahinter, doch ändern tut sich an der Sachlage nichts: Jupiter hat dem erfolgreichen Feldherrn Amphitryon die Persönlichkeit gestohlen und damit auch die Frau, die Gewalt über sein eigenes Leben und die Bestimmungshoheit über sein Handeln. Da geht nichts mehr. Nicht einmal die Erkenntnis, dass es wenigstens Gott war, der das angerichtet hat und schon gar nicht die Aussicht auf einen unehelichen Herkules. Götter gehören einfach ausgerottet. Punkt. Nur wenn das nach dem Besuch der wunderbaren Inszenierung im Kopf herumgeistert, wurde alles richtig gemacht – beim Zusehen.
„Amphitryon“ | R: Lisa Nielebock | Fr. 4.4. 19:30 Uhr | Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
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