Warum nach all den Jahrzehnten immer noch über Dachau reden? Das Jahrhundert, ja selbst das ganze Jahrtausend ist vorbei und die niederländische Theaterkompagnie „De Warme Winkel“ zeigt in den Bochumer Kammerspielen ein 21st Century Erinnerungsstück? Zu sehen ist da erst einmal nichts. Ein riesiger Rohholzkubus steht auf der Bühne, im Hintergrund Kleiderstangen voller Kostüme, an der Rampe sitzen zehn Zuschauer und lauschen dem erklärenden Einführungsintro von Ward Weemhoff, der zusammen mit Vincent Rietveld die Uraufführung von „Der Bus nach Dachau“ inszeniert hat: Weemhoffs Vater hatte den ursächlichen Plot für das Theaterstück geschrieben, in dem eine Gruppe niederländischer Häftlinge damals von ihrer Regierung zunächst nicht aus Dachau abgeholt wurde. Als sie sich dann einen Bus in die Heimat leihen, werden sie zuhause erst in Quarantäne und dann in polizeiliche Verhörräume gesteckt. Der Film wurde von der Filmförderung in den 1990ern abgelehnt.
Nach dem Intro dürfen die zehn in den geschlossenen Kubus, äußern sich bedrückt, Schreie ertönen und eine Peitsche knallt. Nur akustisch hat sich da ein erstes Unbehagen bereits manifestiert, dass leicht aufgelöst wird, durch die hitzige Diskussion der Protagonisten, ob ausgerechnet Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ das richtige Medium für eine Aufarbeitung des Holocaust sein kann und dass man den Film auch mit „Jurassic Park“ vergleichen könnte. Und ganz wichtig: Dass computer-generated imagery Gift für Dokumentarisches ist. Trotzdem benutzen sie später im fiktiven Konzentrationslager im Holzkubus positive Snapchat-Gesichtsmutationen, um das Grauen zu entschärfen, um die Entwicklung, die das Erinnern nehmen könnte zu dokumentieren. Je mehr die Generationen fortschreiten, desto beliebiger werden die Bilder, die zum Historischen gedacht werden. Ja, die Schreie und das Betteln nach wässriger Suppe schaffen Betroffenheit, das wahre Grauen, das verursacht wurde, scheint zu verblassen. Dazu ein De Warme Winkel-Fakten-Abyss: Heute glauben viele, dass 30 Prozent der Deutschen im Widerstand waren, tatsächlich sind es nur 0,3 Prozent gewesen. So fängt urdeutsche Geschichtsklitterung an.
Die Inszenierung schafft einen großartigen Spagat zwischen authentischer Analyse und schwarzem Humor, der die Hollywood-„Aufarbeitung“ und den bundesdeutschem Umgang mit Vergangenheit aufs Korn nimmt. Dabei tragen die wunderbaren Protagonisten (neben Rietveld und Weemhoff, Lieve Fikkers, Marius Huth, Risto Kübar, Lukas von der Lühe und Mercy Dorcas Otieno) zwischen Holzkubus und Ruheraum die Last des Transports, der performative Züge zwischen den unterschiedlichen filmischen Erzählweisen und manchmal sogar einen Anflug von Konzeptkunst trägt. Wenn die am Schauspielhaus fast übliche Übertitelung in einer Frakturschrift angekommen ist, hat die Inszenierung das Heutige erreicht und Neonazi-Glatzen in blonden Langhaarperücken (!) greifen wieder eine jüdische Familie an. Allerdings wehren die sich mit einer Mistforke. Prädikat: Besonders wertvoll.
Der Bus nach Dachau | 10. & 16.12. je 19.30 Uhr | Kammerspiele Bochum | 0234 3333 5555
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