Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
16 17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27 28 29

12.581 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Mit Snapchat das Grauen entschärfen
Foto: Isabel Machado Rios

Das Versinken von Erinnerung

05. Dezember 2022

„Der Bus nach Dachau“ bei den Bochumer Kammerspielen – Auftritt 12/22

Warum nach all den Jahrzehnten immer noch über Dachau reden? Das Jahrhundert, ja selbst das ganze Jahrtausend ist vorbei und die niederländische Theaterkompagnie „De Warme Winkel“ zeigt in den Bochumer Kammerspielen ein 21st Century Erinnerungsstück? Zu sehen ist da erst einmal nichts. Ein riesiger Rohholzkubus steht auf der Bühne, im Hintergrund Kleiderstangen voller Kostüme, an der Rampe sitzen zehn Zuschauer und lauschen dem erklärenden Einführungsintro von Ward Weemhoff, der zusammen mit Vincent Rietveld die Uraufführung von „Der Bus nach Dachau“ inszeniert hat: Weemhoffs Vater hatte den ursächlichen Plot für das Theaterstück geschrieben, in dem eine Gruppe niederländischer Häftlinge damals von ihrer Regierung zunächst nicht aus Dachau abgeholt wurde. Als sie sich dann einen Bus in die Heimat leihen, werden sie zuhause erst in Quarantäne und dann in polizeiliche Verhörräume gesteckt. Der Film wurde von der Filmförderung in den 1990ern abgelehnt.

Schauspielhaus Bochum
Foto: Hans Jürgen Landes / Schauspielhaus Bochum
DAS THEATER: Das Schauspielhaus Bochum, 1919 gegründet, wird vom niederländischen Theater- und Opernregisseur Johan Simons geleitet. Zentrum des Theaters ist ein festes Schauspielensemble, mit kulturellen Einflüssen aus der ganzen Welt.

Nach dem Intro dürfen die zehn in den geschlossenen Kubus, äußern sich bedrückt, Schreie ertönen und eine Peitsche knallt. Nur akustisch hat sich da ein erstes Unbehagen bereits manifestiert, dass leicht aufgelöst wird, durch die hitzige Diskussion der Protagonisten, ob ausgerechnet Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ das richtige Medium für eine Aufarbeitung des Holocaust sein kann und dass man den Film auch mit „Jurassic Park“ vergleichen könnte. Und ganz wichtig: Dass computer-generated imagery Gift für Dokumentarisches ist. Trotzdem benutzen sie später im fiktiven Konzentrationslager im Holzkubus positive Snapchat-Gesichtsmutationen, um das Grauen zu entschärfen, um die Entwicklung, die das Erinnern nehmen könnte zu dokumentieren. Je mehr die Generationen fortschreiten, desto beliebiger werden die Bilder, die zum Historischen gedacht werden. Ja, die Schreie und das Betteln nach wässriger Suppe schaffen Betroffenheit, das wahre Grauen, das verursacht wurde, scheint zu verblassen. Dazu ein De Warme Winkel-Fakten-Abyss: Heute glauben viele, dass 30 Prozent der Deutschen im Widerstand waren, tatsächlich sind es nur 0,3 Prozent gewesen. So fängt urdeutsche Geschichtsklitterung an.

„Der Bus nach Dachau“, Lieve Fikkers und Marius Huth (v.l.) Foto: Isabel Machado Rios

Die Inszenierung schafft einen großartigen Spagat zwischen authentischer Analyse und schwarzem Humor, der die Hollywood-„Aufarbeitung“ und den bundesdeutschem Umgang mit Vergangenheit aufs Korn nimmt. Dabei tragen die wunderbaren Protagonisten (neben Rietveld und Weemhoff, Lieve Fikkers, Marius Huth, Risto Kübar, Lukas von der Lühe und Mercy Dorcas Otieno) zwischen Holzkubus und Ruheraum die Last des Transports, der performative Züge zwischen den unterschiedlichen filmischen Erzählweisen und manchmal sogar einen Anflug von Konzeptkunst trägt. Wenn die am Schauspielhaus fast übliche Übertitelung in einer Frakturschrift angekommen ist, hat die Inszenierung das Heutige erreicht und Neonazi-Glatzen in blonden Langhaarperücken (!) greifen wieder eine jüdische Familie an. Allerdings wehren die sich mit einer Mistforke. Prädikat: Besonders wertvoll.

Der Bus nach Dachau | 10. & 16.12. je 19.30 Uhr | Kammerspiele Bochum | 0234 3333 5555

Peter Ortmann

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mufasa: Der König der Löwen

Lesen Sie dazu auch:

„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24

Die ultimative Rache vor weißer Schleife
„Die Fledermaus“ mit Schauspielstudierenden an den Kammerspielen Bochum – Auftritt 04/24

„Im Gefängnis sind alle gleich“
Regisseurin Katharina Birch über „Die Fledermaus“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/24

Die Fallstricke des Anthropozäns
„Früchte der Vernunft“ an den Bochumer Kammerspielen – Prolog 09/23

Puzzlestücke des Elends, Papiermasken für Mitgefühl
Alice Birchs „[Blank]“ in den Kammerspielen Bochum – Auftritt 06/23

„Jede Person hat zwei Rollen“
Friederike Heller über „Das Tierreich“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/23

Dekadenz und Obsession
„Der große Gatsby“ an den Bochumer Kammerspielen – Prolog 06/22

Von Jahoo, einem Unsichtbaren und Prinzessinnen
Ruhr-Theater-Ostereier im April – Prolog 03/20

Das ewige Prinzip Projektion
Das winterlich Weibliche im kurzen Monat – Prolog 01/20

Heilige Reinigung durch Zerstörung
Kollektive Performance über Heiner Müllers „Hydra“ in Bochum – Auftritt 01/20

Schauspielspezialitäten
Interessantes Oktober-Theater an Ruhr und Niederrhein – Prolog 10/19

Fleisch oder Silikon?
Der kürzeste Theatermonat des Jahres – Prolog 01/19

Bühne.

HINWEIS